Moskau. Elfmeter-Krimi in Moskau: England besiegte Kolumbien mit 5:4 und beendete sein Trauma. Im WM-Viertelfinale wartet nun Schweden.
Wieder Elfmeterschießen. Nach all den Geschichten über Traumabewältigung und Stressmanagement: wieder Elfmeterschießen. Nach 22 Jahren der Pein, nach sechs verlorenen Shoot-outs am Stück. Englands Trainer Gareth Southgate stand am Anfang dieser Kette, er verschoss den entscheidenden Strafstoß im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland. Am Dienstag stand Southgate bei der Erlösung an der Seitenlinie. Im WM-Achtelfinale gegen Kolumbien ging es nach einem 1:1 (1:1, 0:0) wieder zum Punkt. Und behielt trotz Rückstands darin mit 4:3 die Oberhand.
Southgate hatte vor dem Spiel erklärt, den Ernstfall minutiös geplant zu haben. Sogar welche Teambetreuer sich auf dem Rasen aufhalten durften, war im Vorfeld geregelt worden. Als es dann losging, trafen die ersten drei Kolumbianer und die ersten beiden Engländer. Dann scheiterte Jordan Henderson an David Ospina, und schoss Kolumbiens Mateus Uribe an die Latte. England traf, Kolumbiens Carlos Bacca scheiterte an Englands Torwart Jordan Pickford. Eric Dier musste nur noch verwandeln – und er zitterte den Ball ins Tor. "Ich bin froh, dass ich der Mannschaft als Torwart so helfen konnte. Das ist unglaublich, aber wir haben verdient gewonnen", sagte Keeper Pickford. Siegtorschütze Dier meinte erleichtert: "Ich fühle mich wirklich klasse. Das letzte Tor zu machen, war wunderbar. Das ist fantastisch, ein großartiger Augenblick."
England führt bis in die dritte Minute der Nachspielzeit mit 1:0
Bis in die dritte Minute der Nachspielzeit sah es so aus, als hätte sich die Szene des Abends in der 57. Minute zwischen Carlos Sánchez und Harry Kane ereignet. Bei einem Eckball entwickelte sich ein Ringkampf, nach dem Kane aber eher zu stolpern als wirklich gefoult zu werden schien. Schiedsrichter Mark Geiger zeigte dennoch sofort auf den Punkt und ließ sich auch von wütenden Forderungen nach dem Videoschiedsrichter nicht umstimmen. Kane verwandelte gegen Ospina souverän.
Der WM-Torschützenkönig feierte mit der kleinen Kolonie von Anhängern, die sich angesichts der politischen Spannungen beider Länder nur nach Russland getraut hat. Wann gibt es das schon einmal, dass die englischen Fans in der Unterzahl sind? Bei einem Spiel in Europa zumal? An die Hälfte der 44190 Zuschauer im Spartak-Stadion waren Kolumbianer. Sie feierten insbesondere Mittelstürmer Radamel Falcao, und „El Tigre“war umso mehr gefordert, als die zweite kolumbianische Ikone nicht mal auf der Bank saß. Bayern-Star James Rodríguez litt zu stark an den Wadenbeschwerden erholen, die ihn mal links, mal rechts schon das ganze Turnier plagen.
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Die Kolumbianer hielten sich nach dem Rückstand zunächst mit Schiedsrichterprotesten auf und konnten erst in ihrer Schlussoffensive nach der Einwechslung des zweiten Stürmers Carlos Bacca echte Gefahr entwickeln. Nachdem Jordan Pickford in der Nachspielzeit einen Schuss von Matheus Uribe grandios pariert hatte, kam zur anschließenden Ecke sogar Kollege Ospina mit nach vorn. Es war dann aber wieder Innenverteidiger Yerri Mina, der nach einem gewaltigen Sprung zum Ausgleich einköpfte. Bereits sein drittes Kopfballtor bei dieser WM.
Kolumbien bewahrte seinen Offensivdrang bis in die Verlängerung, in der es zunächst das gefährlichere Team war. Von der reifen Spielanlage, die England unter Trainer Gareth Southgate erlangt hat, war vorübergehend nichts mehr zu sehen. Erst gegen Ende der Extraminuten fing es sich wieder. Ein Schuss von Danny Rose streifte minimal am langen Pfosten vorbei (113.), und es kam, wie es nun mal kam.
Englands Trainer Southgate gewinnt das Pokerspiel
England hat einen großen Schritt gemacht. Gestern ging um viel Kredit für Southgates Projekt. Nach Flitterwochen mit der Heimatpresse durch den gelungenen Turnierauftakt führte der Coach einen Showdown herbei, indem er im letzten Gruppenspiel gegen Belgien fast die gesamte Stammelf schonte. England verschenkte dadurch den Gruppensieg und Southgate manche Sympathien. „Ein Leader muss das große Ganze im Blick haben und Entscheidungen treffen, die nicht allen gefallen“, argumentierte Southgate demgegenüber. Das Ergebnis gestern gab ihm Recht. Der Trainer gewann sein Pokerspiel – auf die denkbar süßeste Art und Weise.