Moskau. Vor dem WM-Achtelfinale gegen Kolumbien hat sich Englands Trainer Gareth Southgate gewappnet. Auch, um ein Trauma zu überwinden.
Gareth Southgate, ganz England steht Dir bei“, sagt der Fernsehreporter. Dann ein langer Anlauf, ein Flachschuss nach links – und die Parade von Andreas Köpke. England scheidet im Halbfinale der Heim-EM 1996 nach Elfmeterschießen aus. Die Szene hat sich tief ins nationale Gedächtnis eingebrannt. Southgate weiß heute, dass er überfordert war. Er ist fest entschlossen, dass es nie wieder so weit kommen soll.
Der Elfmeter gegen Deutschland war immer der definierende Moment einer sonst grundsoliden, aber unspektakulären Verteidigerkarriere, die später auch als Trainer bei Middlesbrough nicht über ein gediegenes Maß hinausführte. Dabei wäre es womöglich auch geblieben, wäre im Herbst 2016 nicht der neue Nationaltrainer Sam Allardyce wegen krummer Transfergeschäfte entlassen worden. Und der U21-Coach Southgate aufgerückt, zunächst als Interimslösung, bald mit festem Vertrag.
Englands formidable Psychose
Als solcher coacht er an diesem Dienstag gegen Kolumbien (20 Uhr MEZ) sein erstes K.o.-Spiel, und Southgate hat viel dafür getan, damit seine Nationalspieler für alle Eventualitäten gewappnet sind. Besser als er damals, den die Bitte um Ausführung des sechsten Strafstoßes „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ traf. Besser als seine Vorgänger, die 1990 das Elfmeterschießen im WM-Halbfinale verloren, ebenfalls gegen Deutschland. Besser vor allem als zahlreiche Nachfolger, die 1998 – mit Southgate auf dem Platz, aber nicht als Schütze – gegen Argentinien, 2004 und 2006 gegen Portugal sowie 2012 gegen Italien unterlagen, jeweils aus elf Metern. Was anfangs noch wie Pech wirkte, hat sich über die Jahre zu einer formidablen Psychose ausgewachsen.
Bei so einer, findet der Trainer, helfen nur radikale Maßnahmen. Und so überraschte er seine Zuhörer am Donnerstag in Kaliningrad nach dem 0:1 gegen Belgien mit der Aussage, „wir trainieren Elfmeter seit März unter Wettkampfbedingungen. Vor drei Tagen hätten wir damit nicht mehr anfangen müssen. Ich spüre, dass wir mental und psychologisch für 120 Minuten bereit sind – notfalls auch für mehr.“
Presse stürzte sich nach Belgien-Spiel auf Southgate
Wenn Southgate damit versuchte, die sich bei jener Pressekonferenz anbahnende Kritik an seinen Rotationen zu verdrängen, die England gegen Belgien den Gruppensieg , einiges Wohlwollen in der Heimat und womöglich auch das Momentum kosteten, dann ist ihm das nur halb gelungen. Die Presse stürzte sich trotzdem auf ihn, was den Einsatz für dieses Achtelfinale praktisch verdoppelte. Sollte England ausscheiden, wird Southgate nicht nur dafür verantwortlich sein; sondern auch als derjenige dastehen, der nach dem fulminanten 6:1 gegen Panama vorsätzlich die Party sprengte.
Allerdings stürzte sich die Presse tatsächlich auch auf das Thema mit den Elfmetern, und so weiß man inzwischen einiges über die Details dieser Trainingspraktiken. Die Spieler werden seit März ermutigt, zum Ende jeder Einheit den Ernstfall zu simulieren, inklusive des langen Gangs von der Mittellinie zum Punkt. Außerdem wird individuelles Coaching angeboten, für das unter anderem mit psychometrischen Tests von jedem Spieler eine Art Elfmeterschützenprofil erstellt wurde.
Southgate: „Unter Druck eine Technik ausführen“
Bereits seit Mai steht außerdem die Liste der fünf Schützen wie eine mit fünf Ersatzleuten. Doch nicht nur das. Southgate hat auch festgelegt, welcher Betreuer auf dem Platz stehen darf und welcher nicht. „Wir haben verschiedene Studien und Übungen durchgeführt“, präzisierte er. „Wir müssen sicherstellen, dass wir das Geschehen kontrollieren, dass es ruhig ist und nicht zu viele Stimmen in den Köpfen der Spieler herumschwirren.“ Elfmeterschießen habe mit Glück nichts zu tun: „Es geht darum, unter Druck eine Technik auszuführen.“
Dem Trauma offensiv begegnen: so kann man es auch nennen. Neben den biographischen Hintergründen fügt sich Southgates Reformgeist auch in eine neue Sportkultur im Mutterland, wo spätestens zu den Olympia 2012 in London eine restlose Verwissenschaftlichung den früheren Spontaneitätsansatz verdrängt hat. Doch seine Vorgänger lehnten eine zu obsessive Beschäftigung mit dem Thema oder Angebote, vor zehntausenden Schulkindern ein Elfmeterschießen nachzustellen, noch ab. Wie Roy Hodgson, Trainer bei den drei letzten Turnieren, zu spotten pflegte: „Trainieren kannst du Elfmeter, bis die Kuh nach Hause kommt.“ Also end- wie nutzlos.
Jetzt haben sie es trotzdem getan, und auf die Ergebnisse darf man im Fall der Fälle gespannt sein. Nur die Stürmer Harry Kane und Jamie Vardy sind bei Trefferquoten von 77,8 beziehungsweise 80 Prozent regelmäßige Schützen in ihren Vereinen. Ansonsten gibt es Profis wie Harry Maguire (vier von sechs Elfmetern verschossen) oder Ashley Young (sechs von 14 verschossen, unter anderem 2012 gegen Italien) und solche, die kaum Erfahrung vom Punkt haben. Stammtorwart Jordan Pickford wiederum hielt voriges Jahr immerhin einen Strafstoß im Halbfinale der U21-EM gegen Deutschland. Das zugehörige Elfmeterschießen ging trotzdem verloren.