Moskau. WM-Gastgeber Russland rang Mitfavorit Spanien durch ein 5:4 nach Elfmeterschießen nieder - und steht nun überraschend im Viertelfinale.
Eine halbe Stunde nach einer der größten Überraschungen dieser Weltmeisterschaft wusste Trainer Stanislaw Tschertschessow ganz genau, wem der Ruhm für Russlands 5:4-Sieg nach Elfmeterschießen gegen Spanien gebührte. „Dieser Sieg gehört dir“, sagte der Coach auf der offiziellen Pressekonferenz, zeigte auf den peruanischen Journalisten Lorenso Benkhamin und hielt ein unterschriebenes Trikot mit Lorensos Namen auf dem Rücken hoch. „Du hast immer an uns geglaubt“, sagte Tschertschessow und umarmte den überraschten Südamerikaner, der wahrscheinlich als einziger weltweit diesen geschichtsträchtigen Sieg gegen Spanien vorausgesagt hatte.
Russlands Trainer Tschertschessow: "Wirklich unglaublich"
Als alle Fotos von den russisch-peruanischen Freunden gemacht waren, erlaubte sich Tschertschessow noch einen kurzen Ausflug ins Emotionale. „Was für eine Weltmeisterschaft“, sagte der frühere Torhüter von Dynamo Dresden, der noch immer fließend deutsch spricht. „Viele Mannschaften sind nun bereits auf dem Heimweg. Aber wir sind immer noch dabei. Wirklich unglaublich.“
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Dieser unglaubliche Nachmittag ging bereits unterhaltsam los. So sollte es nur elf Minuten dauern, ehe Sergey Ignashevich den ersten Treffer des Tages erzielte – nur dummerweise auf der falschen Seite. Im Ringkampf mit Schwergewicht Sergio Ramos sprang dem Innenverteidiger der Ball unglücklich gegen die eigene Hacke – und von dort ins eigene Tor. Und obwohl Stürmer Artem Dzyuba schon vor der Partie einen Boxkampf („ein erfahrener Champion gegen einen jungen, wagemutigen Herausforderer“) angekündigt hatte, dürfte diese Art des körperbetonten Zweikampfes kaum gemeint gewesen sein.
Spanien passte sich den Ball 1114 Mal hin und her
Doch das achte Eigentor (WM-Rekord!) dieser Weltmeisterschaft konnte die Stimmung im ausverkauften Glutofen Luschniki nur kurz beeinträchtigen. Spaniens Tiki-Taka-Truppe, die zunächst überraschend auf Regisseur Andres Iniesta verzichtete, passte sich den Ball zwar rekordverdächtige 1114 Mal hin und her und her und hin, doch an einem weltmeisterlichen Offensivspiel schien Spanien nicht wirklich interessiert. Und so waren es die Russen, die zwar zaghaft, aber doch ausdauernd ihr Glück herausforderten. So schien nur eine Frage der Zeit, ehe Spaniens Leichtsinn bestraft werden sollte.
Und er wurde bestraft. Eine unnatürliche Handbewegung Gerad Piques sollte den Iberern zum Verhängnis werden. Der niederländische Schiedsrichter Björn Kuipers brauchte nicht einmal die Hilfe seiner Videorichter (unter anderem die Deutschen Felix Zwayer und Mark Borsch), um direkt das einzig Richtige zu entscheiden: Handelfmeter. Boxfan Dzyuba ließ sich nicht zweimal bitten und traf halbhoch rechts zum verdienten (und lautstark umjubelten) Ausgleich (41.).
Das Spiel, das lediglich auf dem Papier eine klare Sache schien, entwickelte sich auch im zweiten Durchgang zunehmend zu einer Partie Rasenschach. Oder wie Dzyuba es wahrscheinlich formulieren würde: eine Art Schattenboxen. Die ganz und gar nicht freundlichen Gastgeber verstanden es hervorragend, das eigene Tor mit einem ultra-defensiven 5-4-1-System und ganz viel Leidenschaft zu verbarrikadieren, wogegen die Mannschaft von Interimstrainer Fernando Hierro trotz eines schier unglaublichen Ballbesitzes von 78 zu 22 Prozent in den ersten 90 Minuten wenig bis gar keine Rezepte fand.
Mit zunehmender Spieldauer erinnerte das kopf- und kreativlose Anrennen der roten Spanier an den letzten Auftritt der deutschen Mannschaft gegen Südkorea in Kasan. Der agilste Spanier war noch Trainer Hierro, der in der zweiten Halbzeit mit sämtlichen Gliedmaßen fuchtelte, als ob er sich am liebsten selbst einwechseln würde.
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Doch weil die Fifa derlei revolutionäres Gedankengut einen Riegel vorschiebt, versuchte es Hierro schließlich doch mit dem 34 Jahre alten Iniesta, der den enttäuschenden Manchester-City-Star David Silva ersetzte. Und tatsächlich fehlte nicht viel, dass aus dem überfälligen Wechsel eine dieser typischen Ausgerechnet-Geschichten wurde: Denn natürlich war es ausgerechnet Iniesta, der fünf Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit die größte (und nahezu einzige) Möglichkeit der zweiten Halbzeit hatte. Doch Russlands umjubelter Torhüter Igor Akinfeev machte überdeutlich, dass er mindestens noch Lust auf einen 30-minütigen Nachschlag hatte.
Iniesta erklärt seinen Rücktritt aus Spaniens Nationalmannschaft
Als Schiedsrichter Kuipers tatsächlich nach 95 Minuten zur kurzen Pause pfiff, dürfte sich der eine oder andere Russe im Stadion an das letzte Mal, als die Sbornaja ein WM-Achtelfinale bestreiten durfte, erinnert haben. 32 Jahre ist das her – und Russland hieß noch nicht Russland sondern Sowjetunion. Schon damals, 1986 in Mexiko, musste die UdSSR gegen Belgien in die Verlängerung – und verlor im Estadio Nou Camp von León unglücklich mit 3:4.
Doch gestern ist gestern und heute ist heute. Und anders als im mexikanischen León sollte im russischen Luschniki in den zusätzlichen 30 Minuten wenig Bedeutungsvolles passieren – außer die historischen Einwechslungen von Rodrigo (Spanien) und Aleksandr Erokhin (Russland). Erstmals bei einer Weltmeisterschaft nutzten somit beide Teams die neue Fifa-Regel aus, in einer Verlängerung einen zusätzlichen Wechsel zu gestatten.
Das alles: Nebensächlichkeiten. Die wirkliche Show sollte erst nach den 120 Minuten beginnen: Elfmeterschießen. Und während alle russischen Schützen (Smolov, Ignashevich, Golovin und Cheryshev) sicher verwandelten, trafen für Spanien lediglich Iniesta, Pique und Ramos. Umjubelter Held sollte Russlands Torhüter Akinfeev werden, der sowohl die Elfmeter von Koke als auch den letzten Versuch von Iago Aspas hielt. „Was für ein wunderschönes Spiel“, sagte der Keeper, der direkt nach der Partie zur Dopingprobe musste. Iniesta erklärte - wie erwartet - seinen Rücktritt aus Spaniens Nationalteam. "Eine Legende", twitterte Englands Fußball-Idol Gary Lineker.
Und Tschertschessows Freund Lorenso? „Kein Russe hat diesen Triumpf für möglich gehalten. Aber ich war mir sicher, dass es für Stanislav keine Grenzen gibt.“ Den nächsten Beweis dafür soll Tschertschessow am kommenden Sonnabend in Sotschi erbringen. Die russische Party geht weiter.