Heimaey. Am Samstag bestreitet Island sein erstes WM-Spiel. Woher die einmalige Mentalität kommt, zeigt ein Besuch bei Trainer Hallgrímsson.
Wer den Erfolg von Islands Fußballnationalmannschaft verstehen will, braucht einen starken Magen. Seit zweieinhalb Stunden kämpft sich Herjólfur nun schon durch den Atlantik. Wind und Wellen lassen die kleine Autofähre so heftig schwanken, dass die Passagiere an Deck abwechselnd Meer oder Himmel durch die nassen Scheiben sehen. Doch die meisten Fahrgäste sind da längst unter Deck verschwunden. Dem Magen zuliebe. Heimir Hallgrímsson gehört nicht zu ihnen.
Für den isländischen Nationaltrainer ist die knapp dreistündige Überfahrt nach Heimaey Routine. Die Vulkaninsel vor der Südküste Islands ist sein Zuhause. Hier ist er geboren, aufgewachsen, hat bei Íþróttabandalag Vestmannaeyja das Kicken gelernt. Schon mit 17 Jahren merkte er aber, dass er etwas anderes noch viel lieber mag: Coachen.
Doch der Fußball führt Hallgrímsson an diesem windigen Märztag nicht nach Hause. Die meiste Arbeit als Nationaltrainer spielt sich schließlich in Reykjavík ab, wo der 50-Jährige ebenfalls eine Wohnung hat. Hallgrímsson ist unterwegs zu seinem zweiten Job.
Entgegen anderslautender Berichte arbeitet er nämlich weiter als Zahnarzt. Nicht mehr so häufig wie vor seiner Beförderung zum alleinigen Cheftrainer, erst zwei, drei Tage in diesem Jahr, sagt er, aber nun brauchen die Kollegen seine Hilfe. Gestern noch Sotchi, Unterkünfte für die Weltmeisterschaft besichtigen, jetzt wieder Heimaey, Zahnstein entfernen.
Natürlich könnte Hallgrímsson den weißen Kittel an den Nagel hängen. Doch die Praxis gehört nun mal ihm, sie liegt unten in seinem Haus, er fühlt sich verantwortlich, dass alles rund läuft. Und überhaupt: „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten. Das entspannt mich.“
Entspannung braucht Hallgrímsson in den letzten Jahren immer dringender. Seit Islands furiosem Auftritt bei der EM 2016 ist der Hype um das Team nicht abgeebbt. Halb Europa verliebte sich damals in das Überraschungsteam aus dem Norden, in seinen Kampfgeist und die leidenschaftlichen Fans, deren Wikingerschlachtruf berühmt wurde. Plötzlich feierten auch Kinder auf deutschen Bolzplätzen ihre Tore mit einem „Huh!“.
Nicht wenige dürften den 2:1-Sieg über England im Achtelfinale damals als One-Hit-Wonder abgetan haben. So wie die Leistungen anderer Überraschungsteams wie Wales, Albanien oder Ungarn. Keine dieser Mannschaften hat sich für die WM in Russland qualifiziert. Island schon, zum ersten Mal in seiner Geschichte.
Die Erklärung für diesen Erfolg findet man auf Heimaey. Keine fünf Minuten Autofahrt vom Hafen entfernt liegt das Sportzentrum der Insel. Hallgrímsson möchte alles zeigen: Das 1500 Zuschauer fassende Stadion Hásteinvöllur, in dem er mit dem ansässigen Frauenteam Vizemeister und Pokalsieger wurde, später dann die Männer zurück in die erste Liga und den Europapokal führte. Aber auch die drei weiteren Fußballfelder, die Indoor-Arena, die drei Handballhallen, das Frei- und das Hallenbad. Heimaey hat 4300 Einwohner.
Viel Geld ist in den letzten 20 Jahren in den Sport investiert worden. Doch dass Islands Fußballer dank Hallen und Kunstrasen nun endlich auch im Winter trainieren können, erklärt alleine noch nicht den rasanten Aufstieg in der Weltrangliste: von Rang 112 im Jahr 2010 auf aktuell Platz 22. Entscheidend ist etwas anderes: die Mentalität.
Geprägt von großem Unglück
Auf Heimaey war die einst besonders nötig. Am 23. Januar 1973, Hallgrímsson war damals fünf Jahre alt, spuckte die Insel Feuer. Wenige hundert Meter vom Stadtkern entfernt bildete sich ohne Vorwarnung ein neuer Vulkan. Der heutige Eldfell begrub Häuser unter Asche, Lava strömte Richtung Hafen. Dass keiner der damals noch 5000 Einwohner bei dem Ausbruch starb, lag an einem glücklichen Zufall. In der Nacht zuvor war das Wetter so schlecht, dass die Fischer nicht aufs Meer hinausfahren konnten. Alle Kutter lagen noch im Hafen – und boten genug Platz, um die Bewohner zu retten.
Ob die Eindrücke, die Hallgrímsson von diesem Tag im Gedächtnis hat – den brennenden Berg, den üblen Fischgeruch auf dem schwankenden Boot – wirklich seiner Erinnerung entspringen, oder doch den Erzählungen anderer, das weiß er nicht mehr so genau. Nur eines weiß er seitdem sicher: Menschen können große Kräfte entwickeln, wenn sie zusammenhalten. Wer Lavaströme davon abhalten kann, den einzigen Hafen der Insel zu zerstören, der kann auch andere scheinbar übermächtige Gegner bezwingen.
Starkult findet auf Island kaum Platz. Wenn Hallgrímsson durch die Sporthallen läuft, ist er nicht der Nationaltrainer. Er ist Nachbar, Freund, Verwandter. „Na, wie geht’s? Alles gut?“ Ein kurzer Plausch hier, Abklatschen mit den Nachwuchskickern da . Man muss sich das einmal klar machen: Der Nationaltrainer steht in der Halle und niemanden interessiert‘s. „Warum auch? Sie spielen Fußball“, sagt Hallgrímsson. „Der Einzelne ist nicht so wichtig.“ Was zählt, sei die Gemeinschaft. „Der Teamspirit ist unsere stärkste Botschaft an die Welt.“
„Jede Mannschaft ist schlagbar“, sagt der Trainer und beobachtet die Minikicker in einer der Hallen. Ein Junge trägt ein auffällig orangefarbenes Trikot. Rückennummer 10. „Messi“. „Sofort ausziehen!“ Hallgrímsson lacht. Argentinien ist an diesem Samstag Islands erster WM-Gegner (15 Uhr/ZDF).
„Es ist irgendwie romantisch, Argentinien in der Gruppe zu haben. Du spielst gegen die besten Fußballer der Welt“, schwärmt der Coach. Doch ein bisschen nervös sei er trotzdem. Kroatien und Nigeria sind die weiteren Gegner in Islands Gruppe D. Manch einer behauptet, das D stehe für „Death“ – Tod.
Dass die Isländer bei der EM vor zwei Jahren erst im Viertelfinale an Gastgeber Frankreich scheiterten, macht die Sache nicht leichter. „Wir haben den Status als Underdog verloren, die Teams spielen jetzt einen anderen Stil gegen uns.“ Und auch bei den eigenen Fans steigen die Erwartungen. „Früher waren alle noch mit einem Remis zufrieden, jetzt erwarten sie Größeres.“
Mit den Fans in der Kneipe
Hallgrímsson muss es wissen. Schließlich ist er seit sieben Jahren Stammgast bei den Tólfan, dem Fanklub der Nationalelf. Vor jedem Spiel schaut der Coach in ihrer Kneipe in Reykjavík vorbei, erklärt den Fans Startelf und Taktik. Begonnen hat er damit, weil er die Handballnation für Fußball begeistern wollte. Heute ist das längst nicht mehr nötig. Er macht es trotzdem.
„Sie verdienen das, weil sie uns unterstützen“, erklärt Hallgrímsson. „Das ist unsere Art, ihnen Respekt zu zollen.“ Und die Fans geben diesen Respekt zurück: In all den Jahren sei keine Information vorzeitig nach außen gedrungen. Eine Teilhabe, die in Europa wohl einzigartig ist. Und in Deutschland undenkbar.
„Wir tun gut daran, anders zu bleiben“, sagt Hallgrímsson und steuert sein Auto zu einem letzten Stopp. Das Wohnhaus, vor dem er hält, unterscheidet sich nicht von den anderen auf der Insel. Die Tür muss er nicht aufschließen, sie steht offen, wie fast überall auf Island. Nur die großen Panoramafenster, die hat nicht jeder.
Hallgrímsson kann von der obersten Etage seines Hauses bis aufs Festland blicken. Vorbei am Eldfell, hinüber zum inzwischen berühmteren Vulkan Eyjafjallajökull. „Die Isländer denken, sie sind anders, weil sie isoliert sind. Glücklicher, härter, besser. Wir auf Heimaey sind die übertriebene Version der Isländer.“
Und was rechnen sich diese Über-Wikinger in Russland aus? „Es ist gut für uns, in einer schwierigen Gruppe zu sein. Dadurch können wir uns weiterentwickeln“, glaubt Hallgrímsson. „Und danach kann es ja nicht mehr schlimmer werden.“ Danach?