Watutinki. Die Nationalelf muss in Watutinki den WM-Zauber erst noch aufspüren. Die Erdogan-Affäre stört dabei vor dem Spiel gegen Mexiko.
Als die deutsche Nationalmannschaft Mittwochmittag zum ersten Mal ihren WM-Trainingsplatz in Watutinki betrat, ertönte über die Lautsprecher der 70er-Jahre-Klassiker „That's the way (I like it)“ von KC and The Sunshine Band. Um jenen Willkommenssong vernehmen zu können, hatten die Spieler die besagte Riesenstraße überqueren müssen. Aus ihrem unweit gelegenen Teamquartier heraus ging es vorbei an Mietskasernen und Bauruinen, entlang an einem Spalier aus Soldaten und hinauf auf das Trainingsgelände des Militärklubs ZSKA Moskau, wo am Eingang immerhin ein deutscher Schäferhund Wache hielt.
Ob das alles wirklich voll nach dem Geschmack von Kapitän Manuel Neuer und Co. ist, darf bezweifelt werden. Watutinki, soviel steht fest, ist nicht Santo André, das Fischerdorf, wo vor vier Jahren im Campo Bahia an der Atlantikküste ein Titel bringender Geist erzeugt wurde. Aber das war im Vorhinein klar. Russland ist nicht Brasilien, exotisch zwar auch auf seine Weise, aber erst einmal gewöhnungsbedürftig. Das konnte selbst der Bundestrainer nicht verneinen: „Wir haben hier den Charme einer guten, schönen Sportschule. Das müssen wir so annehmen“, sagte Joachim Löw bei seinem ersten Auftritt bei dieser WM. Der 58-Jährige hatte ja den Badeort Sotschi präferiert.
Löw appelliert: Keine Energie verschwenden
Sicher, oft haben Turniere mit Gemurre begonnen und das hatte für das Abschneiden wenig Aussagekraft. Das war in Brasilien so und wird nur beim Blick in den Rückspiegel verzerrt. Trotzdem muss Löws Elf bei dieser WM den Zauber selbst für sich erzeugen. Um sie herum wird er nicht ausreichend versprüht. „Auch 2014 war die Euphorie nicht am ersten Tag da“, sagte Löw, „sie kam erst mit unseren Ergebnissen.“ Daher lautete sein Appell: „Es darf keine Energie damit verschwendet werden. Wir müssen uns arrangieren.“
Bei der ersten deutschen Übungseinheit auf russischem Boden konnte ein Mann wieder mitwirken, der an guten Tagen genug Zauber für eine ganze Elf verbreiten, sie an schlechten aber runterziehen kann: Mesut Özil. Der Mittelfeldspieler litt zuletzt an Rücken- und Knieproblemen. Am Mittwoch wirkte er beweglich und vergnügt. „Zurück beim Team, rechtzeitig zu unserem ersten Training in Russland“, hieß es auf Özils Twitter-Account. Zur Affäre „Erdogan“, die er und Ilkay Gündogan durch das Foto mit dem türkischen Machthaber losgetreten hatten, schweigt Özil weiter, schweigt auch der von seinen Beratern orchestrierte Twitteraccount.
Pfiffe auch am Sonntag gegen Mexiko?
Löw ließ man am Mittwoch nicht dazu schweigen: „Für mich ist in der Öffentlichkeit dazu alles gesagt. Meine Aufgabe ist es jetzt, die Spieler so weit in die Form zu bringen, dass sie für die Mannschaft einen Wert haben“, sagte Löw fast trotzig. Sollte es beim ersten WM-Gruppenspiel gegen Mexiko am Sonntag im Moskauer Luschniki-Stadion (17 Uhr/ZDF) wieder Pfiffe geben wie gegen Gündogan beim Test gegen Saudi-Arabien, „dann ist das so. Wünschen würde ich es mir aber anders.“
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegt beim DFB in dieser Thematik jedoch ebenfalls viel Raum. Der Verband wurde für den Umgang mit der Causa kritisiert. Das wollte DFB-Präsident Reinhard Grindel am Mittwoch nicht auf sich sitzen lassen: „Ich habe viel von schlechtem Krisenmanagement lesen. Aber als ich nach Vorschlägen für ein besseres gesucht habe, waren die Zeilen etwas dünner“, sagte Grindel. Das stimmt natürlich nicht. Ein besseres Krisenmanagement wäre gewesen, hätte man Özil zu einer Erklärung bewegen können. Hätte man nicht, wie DFB-Direktor Oliver Bierhoff, versucht, die Debatte abzuwürgen, sondern sie ernst zu nehmen. Denn die Hintergründe des Treffens mit dem Demokratieverächter Erdogan sind auch vier Wochen danach eben nicht erklärt worden. Auch in Gündogans Worten an die Presse nicht.
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Grindel beschwört integrative Kraft des Fußballs
Grindel, der ehemalige Bundestagsabgeordnete, ist Politiker genug, die Sache nun nicht mehr zu unterschätzen. „Es muss etwas geben, dass tiefer liegt und weit über die beiden Spieler hinausgeht“, sagte der 56-Jährige. „Wir haben es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Bei der WM 2014 hatten wir eine andere Lage. Da war das Thema Integration positiver besetzt und als Chance verstanden worden. Das hat sich mit der Zuwanderung 2015 etwas verändert. Die Menschen sehen Probleme. Sie erwarten Klarheit – auch in Bekenntnissen zu unserem Land.“, sagte Grindel. Er beschwor die integrative Kraft des Fußballs und sendete dann doch noch kritische Worte Richtung Özil, ohne seinen Namen zu nennen: „Wenn er denn schon in Interviews keine Antworten geben will“, sagte Grindel, „dann vielleicht auf dem Platz.“