Bochum. Alexander Richter, Leiter des Talentwerks des VfL Bochum, spricht im Interview über die Zeit mit Leon Goretzka – und dessen besondere Art.
Alexander Richter sitzt in seinem Büro. Dort, wo der Leiter des Talentwerks des VfL Bochum schon vielen vielversprechenden Talenten, deren Eltern und Beratern gegenüber gesessen hat. Im Laufe der Zeit waren darunter auch drei aktuelle EM-Teilnehmer: Ilkay Gündogan, Lukas Klostermann und Leon Goretzka haben die Nachwuchsabteilung des VfL durchlaufen. Und Goretzka war besonders lange dabei: Mit sechs Jahren kam der zum VfL Bochum, erst mit 18 verließ er ihn als Profi in Richtung Schalke 04. Richter hat einen großen Teil dieses Wegs begleitet. Im Interview spricht der 50-Jährige über die ersten Begegnungen mit Goretzka, dessen besondere Art auch neben dem Platz, ein spezielles Verhältnis zum Vater – und Momente, an die sich Goretzka wohl nicht gerne, aber doch genau erinnert.
Herr Richter, wann ist ihnen Leon Goretzka erstmals aufgefallen?
Das war gleich, als ich hier angefangen habe, im Jahr 2008. Da war er 13. Ich kann mich zwar nicht an die erste Begegnung erinnern, aber Leon hatte sich damals am Arm verletzt und trug eine Bandage. Das fällt dann schon auf. Als er in die U15 kam, habe ich ihn sogar selbst trainiert. Da habe ich ihn dann sehr, sehr gut kennengelernt. Er erzählt heute noch davon, wie ich ihn einmal vor der gesamten Mannschaft verbessert habe, als er etwas vormachen sollte. Daran erinnern sich die Jungs komischerweise immer (lacht).
Ab da war das Verhältnis dann enger?
Genau. Aber nicht nur mit Leon, sondern auch mit seinem Vater. Wir haben uns häufig ausgetauscht und hier bei mir im Büro damals auch den ersten Fördervertrag für Leon ausgearbeitet. Wobei der im Hause Goretzka eher zweitrangig war. Speziell Leon war nur auf den Fußball fokussiert, der wollte nur auf den Platz, Tag und Nacht. Leon hatte schon mit 15 Jahren Angebote aus dem ganzen Bundesgebiet und auch davor von den größeren Klubs hier im Ruhrgebiet. Das haben sein Vater und er immer alles offengelegt und sind damit sehr transparent umgegangen. Es war im Grunde nie eine Frage, dass Leon den VfL schon zu Nachwuchszeiten verlassen könnte.
Sie konnten sich also auf die beiden verlassen?
Ja, hundertprozentig. Und Leon konnte sich auf den VfL verlassen, weil wir ihn sehr spezifisch ausgebildet haben. Er war auf einer Kooperationsschule von uns, er war im individuellen Frühtraining. Hier haben wir seine Stärken verbessert und versucht, die Schwächen abzustellen. Für eine spezielle Trainingsübung hatte ich mir damals mal eines der ersten Tore von Julian Draxler im Profifußball als Beispiel genommen. Da hat er einmal einen Übersteiger gemacht und dann den Ball mit links ins lange Eck geschossen. Am nächsten Tag war bei uns Frühtraining und ich habe zu Leon gesagt: Jetzt machst du das bitte nach. Leon sagt selbst, dass er den linken Fuß damals nur hatte, um nicht umzufallen. Er musste dann immer wieder mit links in die lange Ecke schießen, nochmal und nochmal und hat sich im Laufe der Zeit auch extrem verbessert. Ich glaube, es hat ihn gewurmt, dass er hier noch viel arbeiten musste. Solche Dinge nimmt er sich dann als Ansporn, immer besser zu werden.
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Und an solchen Schwächen hat er dann gearbeitet?
Oh ja, im Grunde ständig. Man sieht ja auch heute, dass er sehr, sehr professionell ist. Er achtet auf seine Ernährung, er macht Krafttraining, er arbeitet individuell. Er arbeitet morgens, mittags, abends daran, dass er für die EM fit wird und sich insgesamt verbessert. Und Jogi Löw weiß, was er an ihm hat, da bin ich mir sicher. Leon ist inzwischen Stammspieler und geht voran.
Er erzählt selbst, dass er mit Ihnen in der ersten Einheit gleich eine Diskussion über eine fußballfachliche Frage vom Zaun gebrochen hat…
Bei Leon hat man immer gemerkt, dass er sich anders mit dem Fußball auseinandergesetzt hat als viele andere. Er hat sich auch ganz viele Gedanken gemacht über die Fußball-Themen jenseits des Rasens, wie etwa Ernährung oder Krafttraining. Deswegen konnte man mit ihm auch früh über viele Themen sprechen. Er machte aber auch immer mal wieder Faxen und Blödsinn, das gehört bei ihm zwingend dazu und macht auch seine positive Art aus.
Was heißt das?
Dass er ab und an ein paar Sprüche gerissen, Mitspieler veräppelt oder dem Trainer mal im übertragenen Sinn die Zunge rausgestreckt hat. Was Jungs eben so machen – aber so, dass es der Trainer nicht sah oder hörte (lacht). Bei ihm war das immer sehr positiv. Aber er hat auch immer gerne angefangen zu diskutieren. Und hin und wieder gibt es richtig und falsch, wenn man über taktische Dinge spricht. Und dann musste ich als Trainer auch mal sagen: Du bist erst 14, du weißt noch nicht alles. So ist es falsch. Mach es anders. Damals ging es um das Thema „Offene Spielstellung“, daran kann er sich wie gesagt sehr klar erinnern.
Wann haben Sie bei ihm gedacht, dass er das Zeug zur großen Karriere hat?
Das war schon in der U15. In der U16 hat er ja kaum gespielt, weil wir ihn in den 94er-Jahrgang mit Onur Bulut und Selim Gündüz direkt in die U17 hochgezogen haben. Das war das geilste Jahr für ihn, hat er mir mal gesagt, weil da so „bekloppte Typen“ drin waren. Onur hat Leon häufig den Rücken freigehalten und hat unfassbar viele Kilometer abgerissen. In einigen Spielen war er so unterzuckert, dass wir ihm daraufhin immer ein Stück Schokolade in den Stutzen geschoben haben, damit er das auf dem Platz essen kann. Die Truppe ist dann Westfalenpokalsieger geworden, im Finale gegen Schalke, und Leon hat drei Tore geschossen. Ich kann mich noch gut an seine Jubelpose erinnern, mit Ärmchen wie Streichhölzer. Wenn man ihn dagegen heute sieht, wie er die Schale in die Luft reckt – da ist ordentlich was dazugekommen, da ist jetzt richtig Kruste am Brot (lacht).
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Er hat früh Verantwortung übernommen, war Kapitän der U17-Nationalmannschaft und der Olympiamannschaft. Liegt das in seiner Natur?
Das ist sein Charisma. Wenn er in der Kabine gesprochen hat, auch als Jungjahrgang in der U17-Bundesliga, haben die anderen schon zugehört. Er hat sich diesen Status durch seine Leistungen erarbeitet, aber auch durch seine Art. Er wollte das, er wollte vorangehen. Wir machen zum Beispiel in unserer Ausbildung im Bereich fußballspezifische Ausdauer einmal wöchentlich eine Übung, bei der es richtig ans Eingemachte geht. Das ist wirklich kein Spaß. Auch da ist er vorweggegangen. Das hat er übrigens mit Lukas Klostermann und Ilkay Gündogan gemeinsam. Auch die sind vorangegangen, auch die hatten keinen Berater im Nachwuchsbereich und auch die beiden haben schon ganz früh reflektiert: Wie kann das Spiel aussehen, wie muss ich meine eigene Rolle interpretieren? Verantwortung zu übernehmen bedeutet ja, dass einem die anderen folgen, besonders auf einen achten. Leon hat das immer gehabt, hat das ausgestrahlt.
Er erzählt immer, dass Sie viel für ihn getan haben, ihn auch oft durch die Gegend gefahren haben.
Das haben wir alle gemeinsam und gerne gemacht, nicht nur ich. Man hat etwas von Leon und seiner Familie bekommen und wir haben ihm dann gerne etwas zurückgegeben. Als Verein wie der VfL Bochum, gerade in all den Jahren in der 2. Bundesliga, muss man als Verein auch viel investieren, um Spieler dieser Qualität auszubilden. Die große Kunst ist, sie dann aber auch zu behalten und sie am Ende davon zu überzeugen, ihren ersten Profivertrag bei unserem VfL zu unterschreiben. Das ist in der heutigen Zeit kein Zuckerschlecken, da gehört vieles dazu. Wir haben ihn auch schon mal außerhalb der Reihe von der Schule abgeholt oder ihn bei DFB-Lehrgängen mit Essen versorgt, wenn er Heißhunger hatte. Das Verhältnis war schon sehr eng, die Ausbildung sehr individuell. Das passt zum VfL, das verkörpert unsere Identität. Und bei Leon war die Bindung noch etwas enger, weil er ein Bochumer Junge ist.
Welche Rolle hat die Familie bei seiner Entwicklung gespielt?
Eine sehr große. Leon hat eine sehr enge Bindung zu seinem Vater. Und der ist sehr geerdet, sehr klar in seinem Denken. Er hat ihm mehrfach gesagt: Du machst deine Schule zu Ende oder ich melde dich vom Fußball ab. Wir hatten damals eine Individual-Lehrerin verpflichtet, die Leon unterstützt hat, die alle Fächer mit ihm gepaukt hat und auch drangeblieben ist, ihn richtig gepiesackt hat. Das war zu der Zeit, als er mit 17 und 18 schon eine komplette Saison in der zweiten Liga bei uns gespielt hat. Und der Vater hat ihm immer gesagt: Du machst das, das wird durchgezogen bis zum Abitur. Er wusste genau, wie er seinen Sohn anpacken musste und wie er mit uns sprechen konnte. Das war immer offen und ehrlich, typisch Ruhrpott und typisch VfL. Das hat zusammengepasst.
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Das ist nicht immer so?
Überhaupt nicht! Die Familie Goretzka war immer sehr dankbar, dass wir uns gekümmert haben. Und es war immer klar, dass sie uns das irgendwann mit der Unterschrift unter seinen ersten Profivertrag zurückgeben wollten. Glauben Sie, dass das heute noch häufig vorkommt? Es geht immer früher um Geld, immer früher um Statussymbole, immer früher versuchen Berater und Vereine, sich die Dienste eines Spielers zu sichern. Wir beim VfL Bochum versuchen, möglichst viel mit den Eltern der Spieler in Kontakt zu bleiben. Einige Vereine sperren die Eltern sogar schon aus, lassen sie gar nicht aufs Trainingsgelände. Wir machen das Gegenteil. Ich muss von den Eltern wissen, wie unsere Jungs ticken. Was sind das für Charaktere, wie verhalten die sich zu Hause, sprechen die viel, was gefällt ihnen und was missfällt ihnen? Deswegen besuchen wir, wenn wir dürfen, die Spieler auch zuhause, um sie dort in ihrem Umfeld zu erleben. Ich hab auch immer wieder mal beim Leon zuhause gesessen und mich nach ihm erkundigt. Ich bin zum Beispiel damals auch nach Slowenien geflogen, zur U17-EM, da war Leon als Kapitän dabei. Da kriegst du dann erst recht mit, wie die Berater alle um seinen Vater herumschwirrten, um Leon als Klienten zu ergattern. Das hat den Vater aber alles nicht interessiert.
Er hat also erst als Profi einen Berater gehabt?
Genau. Das verbindet ihn auch mit Ilkay und Lukas, die hatten vorher auch nie Interesse, sich von einem Berater vertreten zu lassen. Das zeigt: Man braucht das in dem Alter nicht. Bei den Profis und im Übergangsbereich gehören Berater zum Geschäft, das ist normal und okay. Aber mit 14 schon, oder noch früher? Eher nicht.
War immer klar, dass Leon Goretzka diesen Weg geht?
Für mich ja. Aber hundertprozentig seriös kann man das nie vorhersagen. Als er die ersten Spiele in der Zweiten Liga gemacht hat und noch A-Jugend hätte spielen können, da war der Weg klar. Aber dann können immer noch Verletzungen dazwischenkommen. Und obwohl Leon mit den Profis trainiert und gespielt hat, stand er dann teilweise immer noch beim A-Jugend-Training und hat gesagt: Ich will hier auch noch mittrainieren. Dann haben wir angefangen, mit ihm über Belastungssteuerung zu sprechen, das wollte er aber gar nicht hören. Was denn für eine Belastung, hat er gefragt. (lacht)
Nutzen Sie Spieler wie ihn heute als Vorbild für die anderen Jungs?
Man muss die Spieler individuell betrachten und darf auch nicht nur in die Vergangenheit schauen. Aber diese Klarheit des familiären Umfeldes, die Gewichtung auf die Schule, die fußballerische Ausbildung und die Identifikation mit dem VfL Bochum, das versuchen wir schon zu vermitteln. Dass man keinen anderen Verein braucht, weil das Talentwerk zu den Top-Ausbildern in Deutschland gehört. Wir verweisen schon drauf, dass Leon, Ilkay und Lukas bei uns ausgebildet wurden und hier ihre ersten Schritte im Profibereich gemacht haben. Ob man dann auch einen Profivertrag beim VfL unterschreibt, ist natürlich eine andere Sache. Das Geld ist bei uns auch immer der letzte Punkt. Und dann betonen wir auch, dass Leon, Ilkay und Lukas als Nachwuchsspieler gesagt haben: Geld ist uns völlig unwichtig. Wir wollen Fußball spielen, wollen eine gute Ausbildung und eine gute Perspektive. Wir haben eine Durchlässigkeit in den Profibereich, die ist so hoch wie bei nur ganz wenigen anderen Lizenzvereinen.
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Wohin geht Goretzkas Weg noch, was ist das Limit?
Der geht mit 35 zurück ins Talentwerk als Jugendtrainer, das habe ich ihm schon angeboten. Ich würde ihn unter Vertrag nehmen, noch zwei oder drei Jahre begleiten und dann in Rente gehen. (lacht) Aber im Ernst: Er wird weiter eine sehr wichtige Rolle in der Nationalmannschaft spielen. Ob er immer beim FC Bayern bleibt, weiß ich nicht. Aber viel höher kann man ja nicht spielen und bei Leons bodenständiger Art kann ich mir vorstellen, dass er sehr lange dort bleibt. Keine Ahnung, ob ihn das Ausland mal reizt. Ich wünsche ihm auf jeden Fall, dass er mal vollkommen verletzungsfrei bleibt, und das für mehrere Spielzeiten am Stück. Aber das ist natürlich schwierig bei diesen Belastungen, nicht nur für ihn. Und ich wünsche ihm viele Titel und einfach eine tolle Karriere.
Letzte Frage: Wie gucken Sie die EM – und schauen sie besonders auf die Ex-Bochumer?
Erst einmal drücke ich Deutschland die Daumen. Aber man achtet natürlich besonders auf die Spieler, die man kennengelernt hat, und denkt an gemeinsame Zeiten und ein paar Begegnungen zurück. An ein Frühtraining bei minus 14 Grad und Schneeverwehungen mit Ilkay Gündogan und zwei anderen Spielern im Jahr 2008, als ich gerade beim VfL angefangen hatte. Oder an die ganzen Gespräche mit Lukas Klostermann und seinen Eltern. Ich drücke Deutschland die Daumen – und den Jungs, die wir hier hatten, ganz besonders. Und noch mehr freue ich mich auf die Zukunft und die Jungs, die jetzt bei uns sind und von uns möglichst weit gebracht werden sollen.