Essen. Ein schwerer Fehler von Edu sorgt 2004 gegen Lüttich für das Ausscheiden des VfL in der Qualifikationsrunde zum Uefa-Pokal. Ein Rückblick.

Es passiert selten, dass alle Zuschauer zufrieden eine Fußballarena verlassen. Aber ein derartig kollektives Entsetzen wie 2004 im Bochumer Ruhrstadion ist schon außergewöhnlich. Die Chronik eines angekündigten Tores beginnt mit einer verheerenden Auswechslung und gipfelt im Aufschrei eines Kabarettisten – Monate nach dem Treffer. Da brüllt Frank Goosen, eingefleischter Anhänger des VfL Bochum und Jahre später dann auch Aufsichtsrat des Klubs, seinem Publikum entgegen: „Brasilien hat wahrscheinlich 180 Millionen Einwohner, die alle fantastisch Fußball spielen können, selbst das brasilianische Au-pair-Mädchen unserer Nachbarn.“ Leiser sagt er dann: „Und wir finden den einen, der nicht einmal einen Scheißbefreiungsschlag hinbekommt.“

Edu (l.) kämpft mit Lüttichs Eric Deflandrefl um den Ball.
Edu (l.) kämpft mit Lüttichs Eric Deflandrefl um den Ball. © Unbekannt | imago

Goosen meint Eduado Goncalvez, genannt Edu, den die Fußballwelt damals noch für einen Abwehrspieler hält. Sein Fehler in einer Begegnung der Qualifikationsrunde zum Uefa-Pokal gegen Standard Lüttich hat 2004 großen Anteil daran, dass der damalige Bundesligist Bochum ausscheidet. „Der einzige Brasilianer, der keinen Fußball spielen kann, spielt ausgerechnet für uns“, jammert Goosen in seinem pointierten Vortrag voll herrlichem Galgenhumor.

Dabei steht Edu, der Mann aus dem Land des damals amtierenden Weltmeisters, an diesem diesigen Septemberabend nur am Ende einer Fehlerkette. Der Treffer liegt schon länger in der feuchten Luft an der Castroper Straße, als der VfL versucht, sich mit zitternden Knien über die Zeit zu retten.

Die Mannschaft um Dariusz Wosz führt durch ein Kopfballtor von Marcel Maltritz seit Ende der 1. Halbzeit mit 1:0 – nach einem 0:0 im Hinspiel in Belgien ein Ergebnis, das den Einzug in die Hauptrunde des Uefa-Cups, des Vorgängers der Europa League, bedeutet. Doch der VfL wird immer zögerlicher. Trainer Peter Neururer wechselt in den letzten zehn Minuten noch dreimal aus, um Zeit zu schinden; die Hereinnahme des vermeintlichen Verteidigers Edu für Angreifer Tommy Bechmann erweist sich im Nachhinein als ganz falsche Entscheidung.

Verhängnisvolle Auswechselungen

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Sie passt damit in eine epische Reihe verhängnisvoller Auswechslungen. Ein gutes Jahr davor hat zwanzig Kilometer entfernt in Dortmund Matthias Sammer gegen Real Madrid in der Schlussminute Amoroso für Dede gebracht und damit das Ausscheiden aus der Champions League eingeleitet: der BVB kassiert durch Amorosos Schlampigkeit noch den Ausgleich zum 1:1 und fliegt aus dem Wettbewerb. Oder Otmar Hitzfeld im Champions League-Finale 1999 gegen Manchester United: Matthäus raus beim Stand von 1:0 und Bayern verliert noch 1:2. Oder Englands Alf Ramsey 1970 in Mexiko – Bobby Charlton ausgewechselt bei 2:0-Führung gegen Deutschland, um ihn fürs WM-Halbfinale zu schonen, dann unterliegt England noch 2:3. Ganz zu schweigen von Christoph Daum und Giovanni Trapattoni, die mehr als damals erlaubte Ausländer einsetzen und deshalb am grünen Tisch die Punkte verlieren.

Im Bochumer Ruhrstadion im September 2004 wird gegen Spielende die Lähmung der Gastgeber geradezu greifbar. Es läuft die zweite Minute der Nachspielzeit, der VfL wähnt sich trotz der Lütticher Überlegenheit im Uefa-Cup. Buchautor und Kabarett Goosen formuliert es so: „Ich werde leider nie vergessen, wie der Ball durch den Bochumer Strafraum – kleine Sprechpause – kullerte. Ein etwas zu hoher Halm hätte ihn aufhalten können.“

Bochums Thomas Zdebel kniet enttäuscht auf dem Platz, während die Lütticher feiern.
Bochums Thomas Zdebel kniet enttäuscht auf dem Platz, während die Lütticher feiern. © Unbekannt | Unbekannt

Goosen meint damit einen scharfen Rückpass Sergio Concecaos von der Grundlinie diagonal durch den Bochumer Strafraum. „Und dann sehe ich auch einen blau gekleideten Spieler.“ Eine freie Interpretation: Bochum, sonst gerne in blauen Trikots, spielt in Weiß (Lüttich in Rot). „Ich dachte, okay, der pöhlt ihn (den Ball, d.Red.) über die Südtribüne auf die Castroper Straße. Dann ist Schluss, durch, alles okay. Einfach nur weghauen, dat Ding.“

Edu tritt jedoch mit seinem schwächeren rechten Fuß daneben, der Ball geht ihm durch die Beine zu Curbelo, gegen dessen Linksschuss Torwart van Duijnhoven keine Chance hat – oder wie der Kabarettist sagt: „Sekundenbruchteile später sehe ich den Fuß dieses Spielers (gemeint ist Edu, d.Red) durch die Luft fliegen, aber an diesem Fuß ist kein Ball. Der Ball war dann an einem belgischen Fuß und im völlig falschen Tor.“ Nach dem 0:0 im Hinspiel sicherte das Auswärtstor Lüttich das Weiterkommen. 

„Brutaler kann man nicht ausscheiden“, gibt der Trainer Peter Neururer damals zu Protokoll, heute sagt er: „Ich war geschockt.“ Ebenso wie die Mannschaft, nachdem Edu schon im Pokalspiel davor in Freiburg ein schwerer Fehler unterlaufen war. Neururer: „Ich konnte ihn nicht mehr hinten aufstellen, denn da fing die ganze Mannschaft an zu zittern.“ Aber auch ohne Edu in der Abwehr misslingt in der Folge so viel, dass der VfL im Sommer 2005 absteigt.

„3-Millionen-Luftloch“

Die Bildzeitung nennt Edus Fehler ein „3-Millionen-Luftloch“ und Neururer bestätigt: „Für Bochum war das Ausscheiden dramatisch, gerade finanziell.“ Es gibt sicher Fußballspieler, die an so einem Erlebnis zerbrechen – nicht so der Brasilianer. „Für ihn war das eine schöne Geschichte,“ sagt Neururer – Edu wurde zum Stürmer umgeschult und machte noch eine ganz nette Karriere.

Edu – laut Neururer – „ein super Junge, hochsensibel, ein äußerst anständiger Kerl mit großartigem linkem Fuß, Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen“ steht beispielsweise in den Geschichtsbüchern des FC Schalke 04 in ganz anderem Zusammenhang. 2011 schießt er die Königsblauen mit zwei Toren bei einem 5:2 bei Inter Mailand ins Halbfinale der Champions League und gewinnt den DFB-Pokal.

Da ist die Szene aus dem Ruhrstadion längst vergessen. Über den damals gespenstischen Augenblick des Gegentores dichtet Kabarettist Goosen: „Was sich da abgespielt hat, möchte ich nie wieder erleben. Um mich herum weinende Frauen, Männer, Kinder und Hunde.“

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