Bochum. Der VfL führte 1976 gegen die Bayern schon 4:0 – aber dann reichte es doch nicht. Richard Leipold über das 5:6 des VfL Bochum gegen die Bayern.

Gegen wen wir gekickt hatten an jenem Samstagmittag, weiß ich nicht mehr. Aber wir müssen gut gespielt und trainiert haben in den ersten Wochen der Saison. Die Belohnung jedenfalls fiel üppig aus. Wir durften das Bundesliga-Heimspiel gegen Bayern München besuchen. Wir – das waren die E-Junioren des VfL Bochum. Unsere blauen Trikots und Trainingsanzüge ersetzten die Eintrittskarten, trotz der knappen Zahl an Plätzen. Das Stadion an der Castroper Straße war eine Baustelle; im Spätsommer des Jahres 1976 fasste es nur siebzehntausend Zuschauer. In der Rückrunde der vorherigen Saison hatte der VfL sechs Heimspiele sogar in Herne, am Schloss Strünkede, austragen müssen und dennoch am letzten Spieltag den Klassenverbleib gesichert.

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Wir durften hinter dem Tor auf der Westseite sitzen – aus heutiger Sicht eine absurde Vorstellung, da doch jeder Quadratzentimeter des Innenraums einem streng bewachten Hoheitsgebiet der Deutschen Fußball-Liga gleicht. Es mögen etwa zehn Meter gewesen sein, die uns von der Linie des Tores trennten, das in der zweiten Hälfte von Sepp Maier bewacht wurde. Er trug seinen bekannten Sweater, dem Blau einer Taube nicht unähnlich, nur ein wenig heller vielleicht und mit einem schwarzen Kragen versehen.

Als Maier so richtig schimpfte

Der beste Torhüter der Welt schimpfte. Manchmal schien es, als wandte er sich uns zu, um sein ungläubiges Staunen auszudrücken, dann wieder fluchte er vor sich hin. Aus Münchener Sicht stand es nach etwas mehr als 50 Minuten 0:4 – in Bochum, in der Provinz: da, wo das Herz noch zählt(e), wo die Bundesliga seit fünf Jahren erst Station machte. Zwei Tore von Harry Ellbracht und ein Treffer von Jupp Kaczor hatten schon vor der Pause, scheinbar, klare Verhältnisse geschaffen. Nach dem Seitenwechsel baute Hans-Joachim Pochstein den Vorsprung aus. Pochstein trug den Spitznamen „Sammy“, weil er, nicht zuletzt dank seiner Frisur, dem Schauspieler und Sänger Sammy Davis junior ähnlich sah. Für ihn freute es mich besonders, weil er zu den Lieblingsspielern meiner Mutter gehörte, die immer dann mit mir ins Stadion gehen musste, wenn mein Vater verhindert war.

Beckenbauers Finger als Taktstock

Der VfL führte also 4:0, in Worten: vier zu null, gegen den FC Bayern, der in jenem Jahr zum dritten Mal nacheinander den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Die Münchener schienen geschlagen, und wir waren dabei – nicht am Radio oder vor dem Fernseher oder irgendwo hinten auf der imposanten, neugebauten Südtribüne, sondern direkt hinter dem Tor eines konsternierten Sepp Maier. Wir sahen, wie Beckenbauer im roten Trikot mit den drei weißen Streifen den Zeigefinger der rechten Hand wie einen Taktstock einsetzte, der in den freien Raum deutete. Und mit wachsendem Entsetzen sahen wir, wie „Kaiser Franz“ die Bayern sogar durch die Fährnisse eines 0:4 zu lenken schien. Der junge Angreifer Karl-Heinz Rummenigge und der erfahrene Verteidiger Hans-Georg Schwarzenbeck betrieben fürs erste Ergebniskosmetik. Sollte der stürmische Außenseiter etwa doch noch aus dem Gleichgewicht geraten? Das konnte, das durfte nicht sein. Nicht an diesem Tag, nicht dort, wo der VfL vor allem dank seiner Heimstärke schon mehrmals dem Abstieg entgangen war.

Jupp Kaczor macht das 5:5

Doch allmählich wurde es eng für Bochum, und Sepp Maiers Miene hellte sich auf. Der Torhüter hatte nur noch wenig zu tun, konnte also in seinem Strafraum verfolgen, wie seine Vorderleute die Korrekturphase dieser Partie vorantrieben. Zwei Tore von Gerd Müller, darunter ein Elfmeter, brachten den Ausgleich. Dann versetzte Uli Hoeneß Bochum mit dem fünften Bayern-Treffer einen Stich ins Herz. Ein paar Wochen zuvor, im Finale der Europameisterschaft, hatte er den Ball beim Elfmeterschießen über das Tor geschossen, „in den Nachthimmel von Belgrad“, wie es die damalige Reportergeneration zu formulieren pflegte. In Bochum trat Hoeneß als kaltschnäuziger Vollstrecker auf.

Der Bochumer Michael Eggert klärt mit dem Kopf vor dem Bayern-Spieler Conny Torstensson (2.v.l.).
Der Bochumer Michael Eggert klärt mit dem Kopf vor dem Bayern-Spieler Conny Torstensson (2.v.l.).

Zehn Minuten vor Ultimo gelang Jupp Kaczor der Ausgleich. Wir waren erleichtert. Fünf zu fünf gegen die Bayern, das ist doch was! Das soll dem kleinen VfL, der grauen Maus, erst einmal jemand nachmachen, dachten wir. Unter dem Eindruck dieses versöhnlichen Abschlusses gab unser Trainer das Zeichen zum Aufbruch. Er wollte uns Kinder sicher aus dem Stadion geleiten, bevor das große Gedränge einsetzen würde. Wir hatten den Ausgang noch nicht ganz erreicht, und ich konnte kaum etwas sehen zwischen all den Menschen, die bangend ausharrten, voller Hoffnung, wenigstens einen Punkt aus diesem unvergesslichen Spiel mitnehmen zu können. Doch dann sah ich, wie Hoeneß in der 89. Minute von der Mittellinie loslief und abermals traf, zum letzten Mal an diesem denkwürdigen Samstag.

Das war unglaublich, auch für Werner Scholz, den erfahrenen Torhüter des VfL. „Ich habe sechs Bälle drauf bekommen, und alle waren drin“, wird er viele Jahre später einem WAZ-Reporter sagen, als könnte er es immer noch nicht fassen. Sonst habe er nicht viel zu tun gehabt an diesem sechsten Spieltag der Saison 1976/77, sagt Scholz. „Unsere Wäschefrau musste mein Trikot nur kurz lüften, dann konnte sie es wieder in den Schrank legen.“

In der Kabine war es totenstill

Nach dem Spiel sei es „totenstill“ gewesen in der Kabine, berichtet der Torwart. Immerhin soll er gelacht haben, als er hinzufügte: „Und ich war der Toteste.“ Die Erinnerung an dieses Fußball-Ereignis dagegen wird noch lange lebendig bleiben. Ein paar Mal ist es dem VfL gelungen, die Bayern zu schlagen, ein einziges Mal (1991) sogar in München. Das größte Spiel der Bochumer Bundesligageschichte aber ist und bleibt, trotz der Niederlage, jenes 5:6. So sehen es Generationen von Fans – und wir, die Kinder von einst, erst recht.