Essen. 2001 krachten Flugzeuge in das World Trade Center. Weltweit herrschte Entsetzen - wenige Tage später standen sich Schalke und der BVB gegenüber.

Jeder, der diesen Tag miterlebte, kann sich noch daran erinnern, wo er am 11. September 2001 war, am Tag des Terrors. Als zwei entführte Flugzeuge gezielt in die Türme des World Trade Centers in New York krachten. Als die Explosionen das Wahrzeichen erst brennen ließen und dann zum Einsturz brachten. Als Tausende Menschen ihr Leben verloren. Als die Welt in Schockstarre versetzt wurde.

Wir Sportjournalisten schauten in unserer Redaktion ungläubig auf den Fernseher, bis dahin hatten wir gedacht, wir hätten an diesem Tag wichtige Arbeit zu verrichten. Ein Champions-League-Abend stand an, die beiden großen Revierklubs waren beteiligt. Borussia Dortmund war zu Gast bei Dynamo Kiew, und Schalke 04, damals Vizemeister nach dem verrücktesten Saisonfinale der Bundesliga-Geschichte, hatte sich auf sein Königsklassen-Debüt gegen Panathinaikos Athen gefreut. Jetzt aber ahnten wir, dass Fußball unter diesen Umständen nicht nur unbedeutend, sondern unmöglich sein würde. Es konnte nur eine Entscheidung geben: die Absage aller Partien.

Doch die Europäische Fußball-Union beharrte in einer fatalen Mischung aus Ignoranz, Geldgier und Unfähigkeit auf Einhaltung ihres Plans. Es wurde tatsächlich gespielt. Die Atmosphäre auf Schalke: gruselig. Die damals noch neue, ungewöhnlich laute Arena dämpfte die Töne, Schalke 04 war feinfühliger als die Uefa. Beim Einlaufen der Spieler erklang gemäßigte Klaviermusik.

Fußball war in diesen Stunden einfach sinnlos

Fußball? Nicht mehr herrlich nebensächlich wie sonst, sondern in diesen Stunden einfach nur noch sinnlos. Den Profis von Schalke 04 gelang nichts, sie quälten sich über den Rasen. Sie verloren 0:2, nicht ein einziges Mal hatten sie aufs Tor geschossen. Wir Reporter reduzierten den Spiel-Anteil in unseren Berichten auf ein Minimum. In Kiew, wo die Partie des BVB 2:2 endete, handelten die Kollegen ähnlich.

Am nächsten Morgen stand ein Interview mit Andreas Möller an. Mit dem Schalker und ehemaligen Dortmunder, dessen Wechsel ein Jahr zuvor einer der spektakulärsten der Bundesliga-Geschichte war. Der Termin war lange vorher verabredet worden, der Spielplan der Bundesliga hielt schließlich für den folgenden Samstag das Revierderby auf Schalke bereit. Wer hätte da ein besserer Gesprächspartner sein können?

Andi Möller betrat den Raum in der Geschäftsstelle nur, um kurz mitzuteilen, dass er sofort wieder gehen werde: „Wir müssen dieses Interview doch nicht machen, oder? Ich habe nämlich keine Lust, über Zweikämpfe zu reden.“ Hatten wir auch nicht. Als wir ihm erklärten, dass wir mit ihm gerne über seine Gedanken und Gefühle sprechen würden, und darüber, ob er sich als Fußballprofi unter dermaßen grotesken Bedingungen überhaupt auf seine öffentlich ausgeleuchtete Arbeit konzentrieren könne, ließ er sich darauf ein.

Schalkes Spieler saßen fassungslos im Hotel

Andreas Möller erzählte uns, dass die Schalker Spieler im Hotel fassungslos und verängstigt auf die Bildschirme gestarrt hatten. Keiner konnte ja wissen, was noch alles passieren würde, die Nachrichten überschlugen sich, die Telefone klingelten ununterbrochen. Die Fußballprofis diskutierten offen darüber, ob nicht auch ein gut gefülltes Stadion in Europa Ziel eines solchen Attentats hätte werden können. Diese Ängste konnte man nachfühlen – es sei denn, man war hochrangiger Uefa-Funktionär.

„Wir bräuchten etwas Zeit zur Besinnung“, sagte Möller, damals 34 Jahre alt und international erfahren. Eine vergleichbare Situation aber hatte auch er nie zuvor erlebt. „Wir reden doch hier über ein Spiel, mit dem wir versuchen wollen, Menschen fröhlich zu machen, Menschen zu begeistern, Menschen vom Alltag abzulenken. Ein Vergnügen ist der Fußball zurzeit nicht.“ Die Spieler hätten den Kopf nicht frei. Möller plädierte dafür, den kommenden Bundesliga-Spieltag und damit auch das Derby abzusagen.

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Die Liga-Bosse berieten sich ausführlich, auch sie kamen zu dem Schluss, dass der Ball rollen sollte. Zudem sollte öffentlich Trauer bekundet werden. Ein fauler Kompromiss, mit dem Schalkes Manager Rudi Assauer nicht einverstanden war: „Fußball soll ja Unterhaltung sein, aber so macht Fußball keinen Spaß.“ BVB-Präsident Gerd Niebaum wehrte sich hingegen nicht: „Ich glaube, dass sich die Deutsche Fußball-Liga das sehr reiflich überlegt hat, und dass es auch vertretbar ist.“ Borussias Trainer Matthias Sammer sprach sich sogar nachdrücklich dafür aus, die Bundesligaspiele stattfinden zu lassen: „Es gilt, was der frühere amerikanische Außenminister Kissinger gesagt hat. Man muss Trauer zeigen, aber neben der Trauer darf nicht alles andere enden, sie darf nicht zum Stillstand führen.“

Am Derby-Samstag: Eine Minute lang nie zuvor erlebte Stille an einem solchen Ort, bei einem solchen Anlass. 60.200 Menschen in diesem Stadion, alle schwiegen, man hörte tatsächlich ein Handy klingeln. Aber erst trauern und dann zum Alltag übergehen – wie sollten sich diese Gegensätze vereinbaren lassen? In der Kapelle der Schalker Arena nahmen die Vorstände der beiden Ruhrgebietsklubs an einer Andacht teil. Fans zeigten in der Arena USA-Flaggen. Auf dem Rasen entstand ein einmaliges Bild: Schalker und Dortmunder Spieler in einem Kreis, Hand in Hand. BVB-Torhüter Jens Lehmann, vier Jahre zuvor einer der Schalker Uefa-Pokal-Helden, gab später seinen Missmut zu Protokoll: „Ich halte das für Heuchelei. Erst Händchen halten, dann auf die Socken gehen.“ Auch wenn seine Meinung eine unpopuläre war, ganz unrecht hatte er nicht: Schiedsrichter Herbert Fandel musste schon nach drei Minuten Spielzeit zur Gelben Karte greifen, weil der Dortmunder Stefan Reuter den Schalker Jiri Nemec umgesenst hatte. Solidarität wäre nach Ansicht von Jens Lehmann gewesen, „wenn Schalke und Dortmund nicht angetreten wären“.

Möller verzichtete nach dem Spiel auf ein Interview

Das Fußballspiel selbst bot wenig Erinnerungswürdiges, bis auf das Tor des Tages. Schalke siegte 1:0 – durch den Ex-Dortmunder Andreas Möller, ausgerechnet. Er ließ seinen langjährigen früheren Mitspieler Jürgen Kohler auf dem Weg zum entscheidenden Treffer in der 17. Minute einfach stehen, ganz kurz nur zeigte er anschließend Freude über das gelungene Solo. Als die Partie abgepfiffen war, wollte er sich aber nicht feiern lassen. Den auf ihn wartenden Journalisten erklärte er höflich, aber bestimmt: „Angesichts dessen, was in der Welt passiert, möchte ich heute keine großen Interviews geben.“ Dann verschwand er eilig.