Essen. Vier Fußballer, sechs Vereine: Die Revier-Legenden Bernard Dietz, Michael Lameck, Rüdiger Abramczik, Frank Mill zu Besuch in der Sportredaktion.
Der Abi geht am Stock. Aber keine Sorge, nur kurzfristig. Er hat sich die Hüfte machen lassen. Da weiß der Ata mitzureden, er hat bereits zwei neue Hüften. Nur ein Gerücht also, dass der Abi die Gehhilfe vorausschauend mitgebracht hatte – für den Fall, dass der Ata ihn wie früher abgrätschen würde…
Legendentreffen in unserer Sportredaktion: Zu Gast waren vier Kultfußballer aus dem Ruhrgebiet, die im Profibereich für insgesamt sechs Revier-Vereine spielten: Bernard „Ennatz“ Dietz (73, MSV Duisburg und Schalke 04), Michael „Ata“ Lameck (72, VfL Bochum), Rüdiger „Abi“ Abramczik (65, Schalke 04, Borussia Dortmund und Rot-Weiß Oberhausen) und Frank Mill (63, Rot-Weiss Essen und Borussia Dortmund). Im Interview gehen sie gemeinsam auf eine Zeitreise – und haben dabei so manche Anekdote parat.
1997 schallten „Ruhrpott“-Rufe durch die Stadien. Es war die Zeit der Solidarität. Dortmund und Schalke gewannen Europapokale, die Menschen gingen auf die Straßen, um für den Erhalt der Arbeitsplätze im Bergbau zu kämpfen. Damals sagte Franz Beckenbauer beeindruckt: Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet. Gilt der Satz heute noch?
Lameck: Ja, das glaube ich schon.
Abramczik: Das Ruhrgebiet hat sich inzwischen sehr verändert. Die Zechen sind dicht. Auch im Fußball erleben wir ganz andere Zeiten.
Dietz: Zeiten, in denen viele Spieler, die für die Vereine hier spielen, nicht mehr aus dem Ruhrgebiet kommen.
Aber BVB-Fans tragen doch heutzutage trotzdem einen Erling Haaland im Herzen.
Lameck: Na klar, Leistung entscheidet.
Abramczik: Trotzdem hat das Bosman-Urteil Mitte der Neunziger alles auf den Kopf gestellt. Für die Vereine war das tödlich, für die Spieler bestens. Denn auf einmal kamen sie ganz leicht an ganz viel Geld.
Mill: Für alte Männer wie uns ist das Mist. (alle lachen)
Dietz: Der Fußball hat heute einen ganz anderen Stellenwert. Wie viele Millionen da umgesetzt werden – das ist doch irre.
Lob für das Dortmunder Stadion
Und gespielt wird in hochmodernen Arenen. Finden Sie das im Nachhinein schade, dass Ihnen das vorenthalten blieb?
Abramczik: Ich fand das damals ja schon klasse, als ich von Schalke nach Dortmund ging, in einem Stadion ohne Laufbahn zu spielen. Da muss ich ehrlich sein: Bei uns im Parkstadion war die Atmosphäre nur toll, wenn es brechend voll war.
Dietz: Der Rasen wird heute unter der Woche mit Wärmeleuchten behandelt. Das sagt alles.
Von Ihnen allen gibt es Fotos mit Schlamm auf Trikots und Hosen.
Lameck: Und mit Eis und Schnee.
Dietz: Und die Spieler werden heute auch ganz anders umsorgt. Von Ärzten, Physiotherapeuten, Betreuern – alles ist perfekt.
Lameck: Auf den Mannschaftsfotos vor Saisonbeginn sind mehr Funktionsträger als Spieler zu sehen.
Mill: Wenn wir früher mal zwei Masseure hatten, waren das schon viele. Und als junger Spieler musste man sich hinten anstellen. Zuerst kamen die Alten dran.
Dietz: Genau, der Kapitän war immer der Erste.
Abramczik: In meinem ersten Jahr wurde ich kein einziges Mal behandelt. Ich hab’ mich in die Badewanne gelegt und mich selbst massiert.
Mill: Bei RWE hatten wir ein Stromgerät, das wurde zum Beispiel auf den Oberschenkel gelegt. Das war aber defekt, da hast du zwischendurch mal einen gewischt gekriegt. (alle lachen)
Kein Neid auf die aktuelle Spielergeneration
Beneiden Sie die aktuelle Spielergeneration um all diese Vorteile?
Mill: Nein. Eigentlich nicht.
Warum nicht?
Mill: Wir hatten es doch gut. Wir hatten noch Beziehungen zu den Menschen, und wir haben auch deshalb heute noch was zu erzählen.
Dietz: Auch für Euch Journalisten war es doch viel leichter damals. Ich erinnere mich noch an den Tag des Europameisterschafts-Endspiels 1980 gegen Belgien in Rom. Da kam mittags noch ein Journalist zum Interview zu mir aufs Hotelzimmer.
Goldene Zeiten für Reporter...
Dietz: Für uns Spieler aber auch. Ich danke dem lieben Gott dafür, dass ich in den Siebzigern und Achtzigern spielen durfte. Ich glaube, Neid auf die Spieler von heute kennen wir alle nicht. Die Summen, um die es heute geht, sind doch sowieso utopisch. Ich habe noch die menschliche Seite des Fußballs erlebt.
Mill: Genau. Wir haben uns selbst nicht so wichtig genommen. Ich erinnere mich daran, dass in Dortmund beim Training ein kleiner Junge mit seiner Mama am Rand stand. Während wir uns warmliefen, haben die ganz nett gefragt, ob sie ein Autogramm haben könnten. Sie haben es sofort bekommen, das war damals kein Problem.
Abramczik: Wir sind Ruhrgebietskinder, wir haben das alles als normal empfunden. Weil wir selbst auch so aufgewachsen sind. Ich war begeistert, als mich Präsident Oskar Siebert mal mit in die Profi-Kabine genommen hat, als ich zwölf war. Zu Stan Libuda hat er gesagt: Hier ist dein Nachfolger. Der Stan guckte mich an und sagte: Dann gib mal Gas, Junge! Was für ein Moment.
Die Spieler heute müssen sich viel mehr an Regeln halten, die von den Vereinen vorgegeben werden, und sind auch in ihrem Privatleben eingeschränkt. Wer sich heute in die Öffentlichkeit begibt, muss damit rechnen, mit dem Smartphone fotografiert zu werden. Und Soziale Medien gab es früher auch nicht.
Dietz: Als Spieler bist du heute komplett gläsern.
Lameck: Freies Bewegen ist nicht mehr möglich. Uns hat man damals auch auf der Straße gesehen und ansprechen können.
Abramczik: Wenn ich heute spielen würde, würde ich mich trotzdem genauso verhalten wie früher. Fußball ist auch Show. Wenn du gefragt bist, muss du auch mal was mitmachen. Das würde ich mir nicht verbieten lassen – nicht vom Verein und auch nicht vom Berater. Warum sollen Profis heute nicht offen sein? Nur weil sie jetzt einen Haufen Kohle verdienen?
Lameck: Abi, es steht in den Verträgen, dass sie nicht mehr alles tun und sagen dürfen.
Abramczik: So einen Mist würde ich nicht unterschreiben. Ich hab meine Verträge früher alleine gemacht und wüsste gar nicht, warum ich einem Spielervermittler 15 Prozent abgeben sollte. Wenn ich weiß, dass ich ablösefrei wechseln kann, dann lehne ich mich doch locker zurück und sage: Dann macht mir doch mal ein schönes Angebot.
Mill: Die Spieler heute haben aber als Jugendliche schon Berater und kennen das gar nicht anders.
"Dietz für 70 Millionen Euro zu Manchester City"
Gönnen wir uns mal einen kleinen Spaß. Welchen Marktwert hätten Sie alle heute?
Lameck: Das kann man nicht bewerten. Und wenn wir uns beklagen würden – was sollte dann erst die Generation vor uns sagen, die in den Sechzigern für deutlich weniger Geld gespielt hat?
Mill: Ich sag’s trotzdem mal. Bernard Dietz für 70 Millionen Euro zu Manchester City!
Abramczik: Ich gehe mal davon aus, dass mich heute kein Verein der Welt bezahlen könnte. (lacht)
Dietz: Ich glaube eher, der Abi müsste noch Geld mitbringen, um mitspielen zu dürfen. (alle lachen)
Ein besonderes Merkmal Ihrer Zeit war auch Vereinstreue. Ata Lameck hat in 16 Jahren 518 Bundesligaspiele bestritten – alle für den VfL Bochum. Und Ennatz Dietz war der Kapitän der Nationalmannschaft, die 1980 Europameister wurde – und spielte immer noch für seinen vergleichsweise kleinen Klub MSV Duisburg.
Dietz: Der Verein war ja auch unsere Familie. Mich wollte damals Trainer Dietrich Weise mal nach Frankfurt holen, als mein Vertrag auslief. Ein Vermittler rief an, wir haben uns auch zum Gespräch in einem Hotel in Düsseldorf getroffen. Ich habe gesagt: Ich muss mir das mal überlegen. Und es stand dann auch in den Zeitungen, dass Ennatz Dietz für 1,5 Millionen Euro zu Eintracht Frankfurt wechseln könnte. Dann kam unser nächstes Heimspiel. Als ich bei uns am Stadion in mein Auto einstieg, klopfte ein Mann, der zwei Kinder dabei hatte, an meine Autoscheibe. Der Mann hat geweint und gesagt: Ennatz, du gehst doch nicht etwa weg von Duisburg, du willst uns doch nicht wirklich verlassen! Das hat mir zu denken gegeben. Auf dem Heimweg habe ich dann in den Rückspiegel geschaut und gedacht: Das kannst du den Leuten doch nicht antun. Dann habe ich den Berater angerufen und gesagt: Ich bleibe in Duisburg. Da sagt der: Okay, ich kriege dann aber noch 2000 Mark für die Vermittlung.