Gelsenkirchen. Schalke hat 2001 die Finger an der Schale, doch dann trifft Patrik Andersson. Die Bayern retten in letzter Sekunde beim HSV den Titel.

Wenn mir der Geruch von Grillwurst in die Nase steigt, wird es heikel. Seit vielen Jahren fällt es mir schwer, an einem Bratwurststand vorbeizugehen, ohne in Versuchung zu geraten – sogar wenn ich beruflich in Bundesliga-Stadien unterwegs bin. Besonders stark ist der Appetit, wenn auf Holzkohle gegrillt wird. Am 19. Mai 2001 musste ich mir solcherlei Genuss noch nicht der Figur wegen versagen. Jener letzte Spieltag der Saison lag lange vor der Autofahrt, auf der ein geschätzter Kollege mich davon überzeugte, seine Art des Gewichtsmanagements zu übernehmen: „Montag ist Wiegetag.“ Also gab ich meinem Verlangen nach, wie fast jedes Mal beim Besuch des Gelsenkirchener Parkstadions. Um mir das Gedränge in der Pause zu ersparen, machte ich mich zwei Minuten vor dem Halbzeitpfiff auf zu einem der Stände, die den Duft glimmender Holzkohle verströmten.

Jörg Böhme trifft zweimal

Das Gelsenkirchener Parkstadion 2001: Die Partie der Schalker gegen Unterhaching bei dem denkwürdigen Meisterschaftsfinale ist zugleich das letzte Spiel vor dem Umzug in die neue Arena.
Das Gelsenkirchener Parkstadion 2001: Die Partie der Schalker gegen Unterhaching bei dem denkwürdigen Meisterschaftsfinale ist zugleich das letzte Spiel vor dem Umzug in die neue Arena. © dpa

Natürlich kann man, nein muss man fragen, ob es nicht unprofessionell ist, wenn ein Reporter ans Essen denkt, solange das Spiel noch läuft. Doch dieser Gedanke verfing nicht – nicht an diesem Nachmittag. Offensichtlich war alles entschieden: die deutsche Fußball-Meisterschaft und auch diese letzte Bundesligapartie in der Geschichte des Parkstadions. Sogar für die Phantasten unter den 65.000 Zuschauern schien die ohnehin kleine Titelhoffnung des FC Schalke 04 vollends zerplatzt. Die Königsblauen waren mit drei Punkten Rückstand auf Tabellenführer Bayern München in die letzte Runde gegangen, hatten aber die leicht bessere Tordifferenz, und nun lagen sie gegen die Spielvereinigung Unterhaching 0:2 zurück. Was also sollte mich vom Grill fernhalten, so kurz vor der Pause?

Die Wende am Bratwurststand

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Die Antwort gaben die lieben Kollegen, als ich wenige Minuten später auf die Tribüne zurückkehrte. Feixend bestätigten sie, was die Geräuschkulisse schon hatte erahnen lassen, als ich das knusprige Grillgut in Empfang nahm. Schalke hatte binnen zwei Minuten ausgeglichen. Da zwischen Hamburg und Bayern noch kein Tor gefallen war, hielt mancher den Titelkampf wieder für offen, und sei es nur, um mich zu foppen. Werner und Klaus schilderten mit diebischer Freude, was ich für einen fatalen Fehler gemacht hätte. Auf den Pressetribünen der Bundesliga würde man noch Jahre später amüsiert davon erzählen, wie „Richie“ zum Bratwurststand gegangen sei, als Schalke im Kampf um die deutsche Fußball-Meisterschaft die Wende herbeigeführt habe. Sie genossen den Spott wie ich die Wurst, aber sie hatten sich zu früh gefreut.

Ein Finale wie aus einem Hollywood-Drehbuch

Schalker Meisterschaftsjubel 2001. Die Freude hielt genau vier Minuten, dann traf Patrik Andersson für die Bayern in Hamburg.
Schalker Meisterschaftsjubel 2001. Die Freude hielt genau vier Minuten, dann traf Patrik Andersson für die Bayern in Hamburg. © Getty

Nun folgt die Geschichte, die sich nicht wiederholen kann. Hätte ein Drehbuchautor den Mut aufgebracht, sie als Drehbuch anzubieten – sogar Hollywood hätte abgelehnt, selbst wenn Soccer in den Vereinigten Staaten populärer wäre. Zu unglaubwürdig. Schalke gerät abermals in Rückstand. Jörg Böhme, ein kurios-verquerer Fußballspieler dreht die Partie mit zwei Treffern, und Ebbe Sand, der Liebling der Massen, entscheidet mit dem 5:3 das Spiel. Wenig später ist Schluss „auf“ Schalke. Klaus, der manchmal zum Zynismus neigt, findet, allmählich werde es Zeit, dass der HSV gegen die Bayern ein Tor schieße. Et voilá: Sergej Barbarez erzielt in der 90. Minute das 1:0.

Verfrühte Salutschüsse auf Schalke

Hamburg ist das Tor zum Glück des FC Schalke. Für vier Minuten und 38 Sekunden. Die Fans stürmen den Rasen, tanzen und toben vor Freude. Was soll noch passieren? Ein Reporter des Bezahlfernsehens behauptet, auch in Hamburg sei Schluss. In diesem Augenblick verschwimmt die Grenze zwischen Schein und Sein. „Schalke ist deutscher Meister, zum ersten Mal nach dreiundvierzig Jahren“, höre ich mich sagen. Werner wirkt abwesend. Er richtet den Blick auf die Anzeigetafel. Dort sind vermeintlich geschlagene Bayern zu sehen. Torhüter Kahn schaut noch grimmiger als sonst und schreit irgendetwas, Trainer Hitzfeld wirkt alt und grau und niedergeschlagen. Die Kamera schwenkt in Richtung Hamburger Strafraum. Der Ball liegt zum Freistoß bereit. Ist das eine Aufzeichnung? Es muss eine Aufzeichnung sein. Hinter der Gegentribüne des Parkstadions knallt es: Salutschüsse für den Champion, Raketen, die in den blassen Nachmittagshimmel steigen.

"Warte, warte, in Hamburg wird noch gespielt!“

Wer zuletzt lacht ... : Jubel der Bayern in Hamburg nach dem Treffer von Bayern-Profi Patrik Andersson.
Wer zuletzt lacht ... : Jubel der Bayern in Hamburg nach dem Treffer von Bayern-Profi Patrik Andersson. © Reuters

Inzwischen ist auch Klaus überzeugt und gratuliert. „Werner, deine Schalker sind Meister.“ Aber Werner, dieser gemütliche Mensch aus dem Sauerland, bleibt misstrauisch. Wie oft hat er angekündigt, er werde das Stadion noch während des Spiels verlassen und „vor dem Stau herfahren“. Jetzt ist er der einzige, der in der Wirklichkeit ausharrt; dort, wo das Verkehrsaufkommen für vier Minuten und achtunddreißig Sekunden gleich null ist. „Warte, warte, in Hamburg wird noch gespielt!“, ruft Werner. In diesem Augenblick läuft Bayern-Profi Patrik Andersson zum Freistoß an – Tor in Hamburg! Aus der Traum des FC Schalke.

Am Ende nur Tränen und die Meisterschaft der Herzen

Das ist sogar für echte Kerle wie Manager Rudi Assauer und Trainer Huub Stevens zu viel. Wenig später liegt mehr als ein feuchter Schimmer auf ihren Augen. Assauer vergleicht das Drama mit großem Kino. „Das ist so unglaublich wie der Untergang der Titanic.“ Projiziert auf das offene Meer der Gefühle passt der Vergleich. Die Kapelle spielt, die Passagiere tanzen. Sie wissen nicht, sie ahnen nicht, dass dieser gewaltige Tanker, voll beladen mit Emotionen, sinken wird. In vier Minuten und 38 Sekunden.

Am Ende ist Schalke „Meister der Herzen“. Und Montag ist Wiegetag