Istanbul. Früher stürmte Ilyas Tüfekci für Stuttgart und Schalke. Doch während seine Ex-Klubs aufeinandertreffen, kann er nicht mal fünf Meter weit gehen.

Er brauchte nur ein paar Dribblings, um im Parkstadion zum Publikumsliebling zu werden. Ilyas Tüfekci war im Sommer 1981 vom VfB Stuttgart zum frisch gebackenen Absteiger Schalke gewechselt und trug mit sieben Treffern in 30 Spielen maßgeblich zur sofortigen Rückkehr in die Bundesliga bei. Der erste Türke im königsblauen Trikot sorgte auch in der Folge-Saison (1982/83) für Furore, zumindest anfangs: Vier Tore in den ersten drei Spielen ließen Schalkes Fans auf eine große gemeinsame Zukunft hoffen. Doch es kam ganz anders.

Weder unter Trainer Siegfried Held, noch unter dessen Nachfolger Jürgen Sundermann konnte sich der 1,64-Meter-Mann dauerhaft durchsetzen. Am Saisonende standen für Tüfekci acht Treffer zu Buche – und der Wiederabstieg via Relegation gegen Bayer Uerdingen (1:3 und 1:1). Der gebürtige Istanbuler, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, verließ die Knappen und heuerte bei Fenerbahce an.

Ob Ilyas Tüfekci sich das heutige Spiel seiner Ex-Klubs Stuttgart und S04 (15.30 Uhr/Sky) live auf seinem Laptop anschauen wird, ist fraglich. Es hängt wohl auch von seiner Tagesform ab, denn der persönliche Kampf des 58-Jährigen ist viel beschwerlicher und existenzieller als ein Kellerduell zwischen Schwaben und Schalkern. Tüfekci ist fast vollständig ans Bett gefesselt. Er kann nicht einmal fünf Meter selbständig zu Fuß zurücklegen, ein Schlauch unterstützt sein Schluckvermögen. Selbst das Aufrichten fällt ihm sichtlich schwer. Und die Aussicht auf dauerhafte Besserung ist gleich Null, denn der einst so flinke und wendige Torjäger leidet an Amyotropher Lateralsklerose, kurz: ALS. Die unheilbare Nervenerkrankung greift zunehmend seine Muskulatur an, führt zu schweren Lähmungen und früher oder später zum Tod.

Diagnose vor zwei Jahren

Vor gut zwei Jahren erhielt Tüfekci die niederschmetternde Diagnose. Seither stemmt er sich jeden Tag mit neuem Mut gegen den körperlichen Verfall an. Der Deutsch-Türke, der nach seiner Karriere 15 Jahre lang als Trainer in der Türkei tätig war, hat den Physiotherapeuten Bülent Avarbek engagiert. Mit ihm übt er so oft wie möglich das Stehen und das Gehen. Das zahlt sich aus. Im November feierte Tüfekci, der nach seiner Bundesliga-Zeit drei türkische Meisterschaften mit Fenerbahce und Galatasaray gewann, den vielleicht größten Triumph seines Lebens: Er schaffte es, drei Meter weitgehend ohne fremde Hilfe zurückzulegen. „Die Tatsache, dass ich wieder etwas gehen kann, zeigt meinen eisernen Willen“, erklärte Tüfekci kürzlich gegenüber der türkischen Zeitung „Yeni Asya“. „Ich weiß natürlich, dass es für mich keine Heilung gibt. Aber wir wollen mich stabilisieren so weit es geht.“

Ilyas Tüfekci ist nicht der einzige Fußballer, den das schreckliche Schicksal ALS ereilte. Der frühere Wolfsburger Profi Krzysztof Nowak erkrankte noch während seiner Profikarriere und starb 2005, im Alter von nur 30 Jahren. Auch der einstige Bochum-Legionär Sergej Mandreko (47) und der frühere holländische Nationalspieler Fernando Ricksen (41) leiden an der heimtückischen Erkrankung – so wie zahlreiche weitere Ex-Profis.

Schwaben-Transfers: Tüfekci, Bordon, Kuranyi

Als Ilyas Tüfekci 1981 gemeinsam mit Dragan Holcer aus Stuttgart zum FC Schalke 04 wechselte, war dies der erste Transfer vom VfB in Richtung Königsblau – aber nicht der letzte: Bis heute verpflichtete Schalke acht Profis von den Schwaben und landete dabei zwei absolute Volltreffer: 2004 kam ein gewisser Marcelo José Bordon für vier Millionen Euro – und war fortan uneingeschränkter Abwehrchef, bis er 2010 nach Katar wechselte.

2005 landete Schalkes damaliger Manager Rudi Assauer mit Kevin Kuranyi einen weiteren Coup: Der Stürmer kam für 6,9 Millionen und traf in 162 Bundesliga-Spielen für Schalke 71-mal. Nicht immer jedoch hielten die „Qualitäts-Einkäufe“ aus der Heimat von Mercedes, was man sich von ihnen versprochen hatte. Spieler wie Thorsten Legat (2000), Jochen Seitz (2003) und Ciprian Marica (2011) floppten auf Schalke. Der 2001 verpflichtete Kristijan Djordjevic musste 2004 nach einem schweren Trainingsunfall sogar Sportinvalidität anmelden. (waz)

Bereits um die Jahrtausendwende entdeckten italienische Wissenschaftler eine auffällige Häufung von ALS unter Fußballern. Manche Experten vermuten Doping als möglichen Auslöser, andere halten häufige Traumata durch Kopfbälle oder durch Tritte in die Beine für eine mögliche Ursache.

Ilyas Tüfekci dürfte es letztlich egal sein, woher seine Erkrankung rührt. Er kann es ohnehin nicht mehr ändern. Stattdessen nutzt er die letzten Jahre seines Lebens, um Bilanz zu ziehen. Die Krankheit habe ihm die Augen geöffnet, sagt er, zum Beispiel im Bezug auf „falsche Freunde, die mich heute nicht einmal mehr anrufen“. Aber das Fußballgeschäft sei eben so, erklärt Tüfekci ohne jede Bitternis: „Vielleicht wird Galatasaray beim ersten Spiel nach meinem Tod eine kleine Schweigeminute abhalten, vielleicht wird man irgendwo eine Straße oder eine Sportstätte nach mir benennen. Wer weiß? Dabei war meine fußballerische Darbietung doch gar nicht wichtig.“

Tüfekcis erster Klub: der BBC Südost

Seine größte Lebensleistung sieht Tüfekci, der einst beim Kreuzberger Kiezklub BBC Südost mit dem Fußballspielen begann, in seinem Beitrag zur Völkerverständigung. „In einer Zeit, in der die Feindseligkeit gegenüber Türken in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte, konnte ich dabei helfen, dass Türken und Deutsche einander etwas besser kennen und schätzen lernten.“

In der Tat war es bemerkenswert, dass Anfang der 1980er-Jahre, als der Fremdenhass in Deutschland einen ersten gefährlichen Boom erlebte, begeisterte „Tüfekci, Tüfekci!“-Rufe durch das weite Rund des Gelsenkirchener Parkstadions hallten. Auch türkische Medien nahmen die Warmherzigkeit, die ihrem Ilyas (19 A-Länderspiele und sechs Tore für sein Geburtsland) damals zuteil wurde, wohlwollend zur Kenntnis.

Anfang November dieses Jahres, am Abend vor dem großen Istanbuler Fußball-Derby, besuchten Vertreter von Fenerbahce und Galatasaray den Patienten Tüfekci daheim an dessen Krankenbett. Sie überreichten ihm Trikots, etwas süßes Gebäck und die allerbesten Wünsche. Das gemeinsame Foto, das anlässlich der Visite entstand, sah zugleich nach Abschied aus. Ilyas Tüfekci weiß ganz genau, wohin ihn seine weitere Reise führen wird. „Keine Angst“, sagt der kleine, zerbrechlich wirkende Mann mit bemerkenswerter Gefasstheit, „ich werde auf mich aufpassen, wenn ich sterbe.“