Gelsenkirchen. . Olaf Thon erinnert sich an die Nacht von Mailand und verrät, was Schalke bei der Entscheidung so stark gemacht hat: „Ingos Elfmeter hat uns so viel Kraft gegeben und Jens stand wie eine Wand“
Was man halt so macht, wenn man gerade Uefa-Cup-Sieger geworden ist und nach durchfeierter Nacht erst im Morgengrauen aus Mailand nach Hause kommt: Olaf Thon ging beim Bäcker um die Ecke Brötchenholen, setzte sich mit der Familie zu Hause an den Frühstückstisch und fuhr dann die beiden Töchter wie immer in die Schule und zum Kindergarten. Herrlich normal: So hat Olaf Thon den Morgen danach in Erinnerung – den Morgen nach dem 21. Mai 1997, an dem ganz Schalke das Wunder von Mailand feierte. Darum geht es heute in der WAZ-Serie zum Triumph der Eurofighter.
Der Gegner
Inter Mailand – schon zur damaligen Zeit eine Weltauswahl mit Stars wie Ivan Zamorano, dem chilenischen Torjäger, Youri Djorkaeff, dem genialen Franzosen, oder Paul Ince, dem Dampfmacher aus England. Im Halbfinale hatte Inter den AS Monaco aus dem Weg geräumt – in der Vereinsvitrine war der Platz für den Uefa-Pokal, den im Jahr zuvor die Bayern gewonnen hatten, schon reserviert. Schalke hat’s nicht gejuckt. „Wir mussten von Runde zu Runde hören, dass die anderen gewinnen werden”, sagt Olaf Thon und grinst: „Umso schöner, wenn man dann immer als Sieger den Platz verlässt.”
Das Hinspiel
Schalke musste in jeder Runde an die Grenzen gehen, die Konsequenz: Alle elf Spieler waren vor dem Hinspiel im Parkstadion mit Gelb vorbelastet – bei der nächsten Karte drohte eine Sperre fürs Rückspiel. Doch alle elf kamen durch, und Olaf Thon staunt noch heute: „Das muss man erstmal schaffen, eine Mannschaft wie Inter ohne ein einziges Gelb-Foul zu schlagen.” 56 824 Fans im Parkstadion und 11,38 Millionen Menschen vor den Fernsehern bangten mit Schalke – und jubelten beim 1:0-Siegtor durch Marc Wilmots in der 70. Minute. Wilmots machte genau das, was Huub Stevens in der Pause eindringlich geraten hatte: Einfach mal aus der Distanz draufhauen. „Die Italiener haben gedacht: Von da wird keiner schießen”, erinnert sich Thon: „Aber wir wussten, dass Marc so schießen kann – Inter wusste das zum Glück nicht.” Schalke hatte damit alle sechs Heimspiele im Uefa-Cup ohne Gegentor gewonnen – die Null stand bei Stevens wie eine Eins.
Nach dem Abpfiff blinkte auf der Anzeigetafel im Parkstadion in goldener Schrift immer wieder auf: „Eine Hand am Pott.” Auch die Fans wollten einfach nicht nach Hause gehen. Und Charly Neumann, der unvergessene Mannschaftsbetreuer, fand einfach nur: „Es war wie ein Gottesdienst.”
Das Rückspiel
25 000 Schalker hatten die Königsblauen nach San Siro begleitet, viele pilgerten mittags schon in den Mailänder Dom, um Beistand von oben zu erbitten – Charly Neumann tat das auch: „Wir wussten, dass Charly in der Kirche sehr viel Geld ausgegeben hatte, um Kerzen für uns anzuzünden”, sagt Thon. Auch die Inter-Fans machten viel Theater – Schalke wohnte mitten in der Stadt und hatte schon in der Nacht vor dem Spiel keine Ruhe, „aber das hat uns alles nicht mehr interessiert”, erzählt Thon. Denn Schalke wollte nur noch den Pott – und das jetzt aus voller Überzeugung: „Wir waren nach dem 1:0-Sieg im Hinspiel nicht mehr der Außenseiter.”
Im Stadion konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen: „Eine solche Stimmung habe ich in meiner ganzen Karriere sonst nirgendwo erlebt”, erzählt Thon: „Und nach 85 Minuten habe ich gedacht, das Stadion bricht auseinander.” Denn da rettete sich Inter mit dem Tor von Ivan Zamorano in die Verlängerung, wo die Mailänder dann sogar einmal die Latte trafen. Da musste Schalke kräftig durchpusten, aber heute, 20 Jahre später, schmunzelt der Kapitän darüber: „Dieses Szenario musste wohl so sein. Ein Sieg nach 90 Minuten wäre für unsere Geschichte zu einfach gewesen…”
In der Pause vor der Verlängerung fragte Huub Stevens seinen Kapitän, ob er Ingo Anderbrügge für ein eventuelles Elfmeterschießen einwechseln sollte? Anderbrügge hatte zuvor in der Bundesliga zwei Elfmeter verschossen, war aber eigentlich Schalkes bester Schütze. Und Thon hatte das richtige Gespür für diese besondere Situation: Er machte sich für Anderbrügge stark, der kam in der 98. Minute und verwandelte dann den ersten Elfmeter für Schalke: Der Ball war so feste in die Maschen gedroschen, dass er sich im Netz verfing und erst gar nicht zu Boden fallen wollte. „Diese Klebe von Ingo hat uns so viel Kraft gegeben”, sagt Thon, der seinen Elfmeter anschließend ebenso verwandelte wie Martin Max und zum Schluss ganz sicher auch Marc Wilmots.
Der Held
Natürlich war jeder Schalker an diesem Abend ein Held, aber zwei will der Kapitän im Elfmeterschießen herausheben: „Ingo Anderbrügge, weil er den so wichtigen ersten Schuss so sicher verwandelt hat, und natürlich Jens Lehmann.” Der Torwart hielt den ersten Inter-Elfer von Ivan Zamorano einfach phänomenal und verwirrte vor dem dritten Mailänder Versuch den Schützen Aron Winter mit einem Psychotrick so sehr, so dass dieser am Tor vorbei schoss – nur Youri Djorkaeff konnte Lehmann bezwingen. „Jens war wie eine Wand”, sagt Thon und erzählt noch einmal die Geschichte, wie akribisch Huub Stevens seinen Torwart auf die Mailänder vorbereitet hatte: Der Trainer hatte über Jahre viele Informationen über alle möglichen Elfmeterschützen zusammengetragen, vor dem Finale gab er die über die Mailänder Spieler an Lehmann weiter. „Huub hatte damals alles in seinem Laptop gespeichert“, sagt Thon. Der Laptop steht übrigens heute im Schalke-Museum.
Die Erinnerung
Es war die schönste Party überhaupt – auch weil Schalke darauf bestand, dass die Spielerfrauen mit auf den Rasen kamen. Der Zusammenhalt unter den Mädels war damals genauso eng wie der unter den Männern – die Spielerfrauen waren eine Mannschaft hinter der Mannschaft. „Die Ordner wollten unsere Frauen erst nicht auf den Platz lassen”, erinnert sich der Kapitän, „es hat ein paar Minuten gedauert, aber dann ging die Party richtig los.” Und es gab kein Ende.
Am Flughafen in Köln-Bonn wurde Schalke noch in der Nacht von den Fans empfangen, Olaf Thon höchstpersönlich trug den „Pott” aus dem Flieger auf den deutschen Boden. Mittags trugen sich die Spieler ins Goldene Buch der Stadt Gelsenkirchen ein, in offenen Wagen ging’s dann Richtung Parkstadion. „Rudi Assauer und der Trainer haben bestimmt, wer in welchem Wagen sitzt”, erzählt Thon, der an diesem Tag nach dem Triumph kaum die Augen zumachen konnte.
Nur einmal ganz kurz: Nachdem er seine beiden Töchter in der Schule und im Kindergarten abgeliefert hatte – ganz normal, wie jeden Tag.