Essen. Lübeck wirft Trainer Pfeiffer vor dem Spiel bei Rot-Weiss Essen raus. Ob das etwas bringt? Die Analyse zum „Trainereffekt“.
Erst wirft 1860 München seinen Trainer raus, bevor das Spiel gegen Rot-Weiss Essen hätte stattfinden sollen, nun der VfB Lübeck. Lukas Pfeiffer musste am Montag gehen, Co-Trainer Bastian Reinhardt übernimmt die Mannschaft bis zur Winterpause und die ersten RWE-Fans unken schon: Muss das sein? Ausgerechnet vor der Partie gegen „uns“? Sie befürchten den oft beschworenen „Trainereffekt“. Doch existiert der überhaupt?
24 Entlassungen, Wechsel von Interims- auf feste Lösungen ausgeklammert, gab es in den Drittliga-Spielzeiten 2021/22, 2022/23 und 2023/24. Nur in fünf Spielen nach einer Trennung holte die jeweilige Mannschaft einen Sieg. Einen unmittelbaren Effekt haben Entlassungen also äußerst selten, in einem von fünf Fällen, und das überrascht nicht: Es sind meistens formschwache Vereine, die ihren Trainer rauswerfen und auf frische Impulse von einem Neuen hoffen. Die spielerischen Probleme, die Blockaden in den Köpfen der Spieler, lassen sich allerdings nur schwer innerhalb weniger Tage lösen.
MSV Duisburg bleibt im Keller, Sandhausen auf dem Weg nach oben
Daher muss man sich die mittelfristigen Effekte anschauen. In der bisherigen Drittliga-Saison hat sich der MSV Duisburg von Torsten Ziegner getrennt. Zunächst übernahm U19-Coach Engin Vural, dann Boris Schommers. Bei den Zebras ist klar: Der Trainerwechsel hatte keinen positiven Effekt. Die Mannschaft steht weiterhin im Tabellenkeller. Boris Schommers gelang erst ein Sieg. Ein klares Anzeichen dafür, dass den Duisburgern derzeit schlicht die Qualität für mehr fehlt.
Der SV Sandhausen entließ Danny Galm, Jens Keller ist sein Nachfolger. Hier hat sich der Wechsel bisher mehr als gelohnt: Keller ist mit dem vor der Runde hoch gehandelten SVS noch ungeschlagen, sein erstes Spiel gewann er. Beim dritten Klub, der seinen Trainer entließ, lässt sich noch gar nichts deuten: 1860 München. Frank Schmöller wartet auf sein erstes Spiel - die Partie gegen RWE konnte am Wochenende bekanntlich nicht stattfinden.
Und in der Vorsaison? Elf Klubs tauschten auf der Bank durch, der FC Ingolstadt gleich doppelt. Keine Überraschung also, dass der erste Trainerwechsel bei den Schanzern gar keinen positiven Effekt hatte. Für Guerino Capretti war nach wenigen Monaten schon wieder Schluss, Nachfolger Michael Köllner ist noch immer in Amt und Würden. Gelohnt hat sich der Wechsel für den VfL Osnabrück. Daniel Scherning verließ die Lila-Weißen damals freiwillig Richtung Bielefeld; ein Glücksfall, wie sich herausstellen sollte. Interimstrainer Tim Danneberg konnte sein erstes Spiel zwar nicht gewinnen, als aber Tobias Schweinsteiger unterschrieb, ging es mit begeisterndem Fußball in die Zweite Bundesliga.
Wie so oft warfen viele vom Abstieg bedrohte Vereine ihren Übungsleiter raus. Erzgebirge Aue verpatzte den Saisonstart, unter Pavel Dotchev wurde es besser, auch der Hallesche FC hielt die Klasse, nachdem Sreto Ristic für André Meyer übernahm. Für beide Ostklubs waren die Wechsel somit erfolgreich.
Das lässt sich nicht über jeden Drittligisten sagen. Zwickau, Meppen, Oldenburg und Bayreuth tauschten ihre Trainer und stiegen ab, beim SVM war der Trend leicht positiv, als der alte Recke Ernst Middendorp einstieg. Eindrücklich auch das Beispiel 1860: Ja, es ging etwas nach oben, aber nicht nachhaltig, sonst wäre Maurizio Jacobacci nicht vor wenigen Tagen entlassen worden - nach nicht mal zehn Monaten im Amt.
Drei Kategorien von Trainerentlassungen
Man muss also stets differenzieren, man kann Entlassungen eigentlich in drei Kategorien einsortieren.
- Kein Erfolg trotz Qualität: Die Verantwortlichen sind von dem Potenzial der Mannschaft überzeugt, sie ruft es aber nicht ab. Der Trainer hat die Kabine verloren. Die Taktik passt nicht zum Spielermaterial. Allesamt Gründe, bei denen sich, rein statistisch gesehen, ein Trainerwechsel lohnen dürfte - das ist offensichtlich beim SV Sandhausen und Jens Keller der Fall.
- Die letzte Patrone: Die Mannschaft steht ganz schlecht da, ein neuer Impuls muss her. Ein Feuerwehrmann darf übernehmen und eine Rettungsmission leiten. Klappt sie nicht, dann darf man davon ausgehen, dass die Mannschaft einfach nicht gut genug zusammengestellt war. Klappt die Rettungsmission, hat sich der Schritt ausgezahlt, im Idealfall folgen weitere Schritte nach vorne: Der Retter baut gemeinsam mit den Verantwortlichen ein mittel- und langfristig erfolgreich spielendes Team auf. Beispiel: Wehen-Wiesbaden in der Vorsaison: Markus Kauczinski stabilisierte die Truppe und stieg auf, in Liga zwei steht der SVWW gut da.
- Strukturell bedingt: Regelmäßig tappen Vereine in eine Falle: Die Gefahr besteht, dass ein Klub in einen Strudel aus Entlassungen gerät, jeder Trainer seine eigenen Ideen einbringt und der Kader völlig durchgewirbelt wird; Neustart nach Neustart, die Ergebnisse bleiben aus. Der Trainer ist dann das schwächste Glied in der Kette und muss gehen. Dabei sitzen die Probleme nicht auf der Bank, sondern viel tiefer, siehe 1860 München und Duisburg.
Forscher der Universitäten Münster und Kassel haben sich dem Phänomen „Trainereffekt“ wissenschaftlich genähert. Sie untersuchten mehr als 150 Trainerentlassungen in der Bundesliga zwischen den Jahren 1963 und 2009 und schauten sich die Effekte an. Das Ergebnis: Die betroffene Mannschaft spiele nach einer Entlassung genauso gut oder schlecht wie ohne Trainerwechsel. Die Spielstärke der Mannschaft ändert sich eben nicht.
Nachhaltige Strategie zahlt sich (fast) immer aus
Was sich daraus ergibt? Eine nachhaltige Strategie, die ein Verein gemeinsam mit einem Trainer entwirft und eisern verfolgt, ist statistisch gesehen erfolgreicher als auf den „Trainereffekt“ zu hoffen und erhöht die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Das sieht man gerade in der Dritten Liga bei der SG Dynamo Dresden, die sich nach dem verpassten Aufstieg nicht von Marcus Anfang getrennt hat und nun auf dem besten Weg Richtung Zweite Bundesliga ist. Das sieht man am SC Preußen Münster, der Sascha Hildmann nach dem Abstieg 2020 nicht entließ, sondern ein neues Team formte, das in diesem Sommer aufstieg und derzeit einen komfortablen zehnten Platz belegt. Und das sieht man an Rot-Weiss Essen - nach einer teils heftigen ersten Drittliga-Saison durfte Christoph Dabrowski bleiben, er hat sich gemeinsam mit seinem Team beständig weiterentwickelt.
Lesen Sie hier: RWE-Talk - was für einen neuen Dabrowski-Vertrag nötig wäre.
In welche Kategorie sich die Entscheidung des VfB Lübeck einordnen lässt, ist natürlich Stand heute schwer zu beurteilen. Die Indizien legen nahe, dass sich die Entlassung auszahlen könnte. Die Mannschaft hat schon gute, überraschende Ergebnisse erzielt. Die Akteure weisen zusammen 2030 Drittliga-Einsätze vor, mehr Erfahrung hat nur 1860 München. Potenzial für mehr scheint also vorhanden. Als Tabellensechszehnter mit vier Punkten Rückstand auf das rettende Ufer handelte der Verein aber auch aus Ergebnisdruck.
Leitet man einen Trend aus den Drittliga-Entlassungen der vergangenen Jahre ab, dann dürfte sich der Wechsel mittelfristig durchaus lohnen, dass an diesem Freitag an der Hafenstraße schon ein „anderer“ VfB Lübeck auftritt, ist statistisch jedoch eher unwahrscheinlich.