Leverkusen. . Borussia Mönchengladbach siegt in Leverkusen 2:1, Trainer Lucien Favre ist völlig losgelöst und stolz auf den Charakter seiner Elf. „Aber wichtig“, sagte der Fohlen-Trainer vor dem DFB-Pokalspiel gegen die Bayern, „ist der Kopf.“

Es kam die 88. Minute, und wie so oft beginnt die Geschichte von Borussia Mönchengladbach bei Marco Reus, diesem begnadeten Ausnahmekönner. Reus spielte also einen dieser Pässe, wie man sie selbst auf höchstem fußballerischen Niveau nicht alle Tage sieht. Igor de Camargo sprintete in den Ball und vielleicht hat er in diesem Moment gespürt, dass man so ein Zuspiel veredeln muss. Nicht verschludern darf. Jedenfalls ließ de Camargo Leverkusens tapferen Torwart Bernd Leno ins Leere greifen und schoss das Tor zum 2:1-Sieg. Man würde noch ein bisschen das fußballerische Genie von Marco Reus preisen, aber üblicherweise würde die Geschichte hier und jetzt enden.

Gladbachs Trainer Favre ist der Taktik-Tüftler

Aber diese 88. Minute erfuhr noch eine unerwartete Wendung. Lucien Favre, dieser immer so kontrolliert wirkende Trainer, vergaß plötzlich alles, was ihm im Fußball wichtig ist. Gladbachs Favre sprintete an die Eckfahne, so schnell wie zuvor de Camargo, er herzte und drückte seine Spieler, man erlebte den Schweizer zum ersten Mal losgelöst. Und lange nach dieser 88. Minute sagte Favre einen für Favre unerhörten Satz: „Manchmal ist Taktik nicht so wichtig.“ Für alle, die Lucien Favre nicht so gut kennen, sollte man sagen, dass das ungefähr so ist, als würde morgen Papst Benedikt erklären, der Glaube an Gott sei nun auch nicht immer das allein Seligmachende.

Nicht viele Bundesliga-Trainer gelten taktisch als so versiert wie Favre, keiner als ähnlich besessen wie dieser Schweizer Tüftler. Mitarbeiter erzählen, man könne Favre nachts um drei Uhr wecken und nach der aktuellen Startelf und der taktischen Formation von, sagen wir, Steaua Bukarest fragen. Man bekomme eine Skizze und elf Namen aufgemalt, und jede einzelne Information treffe zu.

Mut der Gladbacher Spieler macht Favre stolz

Dieser Lucien Favre also wirkte nach dem Gladbacher Sieg in Leverkusen regelrecht befreit. Er war nach dem famosen 2:1 kurz vor Spielschluss 45 Meter auf seine Spieler zugesprintet, bemerkenswert schnell übrigens für einen Mann von 54 Jahren. Borussias Sportdirektor Max Eberl stand daneben, grinste und räumte ein: „Ich hätte mir eine Zerrung geholt.“ Und dann schwärmte Favre mit leuchtenden Augen, wie mutig seine Spieler auf das entscheidende Tor gedrängt hätten, obwohl Leverkusen erst kurz zuvor das 1:1 durch Stefan Kießling markiert hatte. Man weiß, was Favre so stolz machte: Eine ganze Reihe anderer Mannschaften wäre danach weggeknickt und hätte das Spiel womöglich noch verloren. Die meisten Teams wären zumindest darauf bedacht gewesen, das 1:1 über die Zeit zu bringen.

Gladbach nicht, Gladbach drängte auf das 2:1. Es gab keine explizite Anweisung von der Bank, obwohl Favre ungern etwas dem Zufall überlässt. Aber ganz offensichtlich kam der Ruck, sich dieses Spiel nicht aus der Hand nehmen lassen zu wollen, aus der Mannschaft. „Meine Spieler haben viele Freiheiten auf dem Platz“, sagte Favre, und auch das erzählte er noch: „Es war die ganze Woche schon zu spüren, dass meine Mannschaft in Leverkusen gewinnen wollte.“

„22 Torschüsse gegen Gladbach" reichen Leverkusen nicht

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Man darf daraus nicht den Umkehrschluss ziehen, dass Bayer Leverkusen nicht wollte. Die Elf, geschockt vom frühen 0:1 durch Reus, kämpfte sich mit großer Leidenschaft zum späten 1:1 durch Kießling. Das schon. Aber die alten spielerischen Anlagen liegen irgendwo verschüttet, und man wird das Gefühl nicht los, dass der Verbindung von Trainer Robin Dutt und Bayer 04 die Selbstverständlichkeit und damit die Leichtigkeit fehlt. Es wirkt, als arbeiteten sich Verein und Trainer, dem aus dem medialen Umfeld eine Mischung aus Skepsis und offener Ablehnung entgegenschlägt, aneinander ab. Dutt unterfüttert das Fremdeln mit unglücklich wirkenden Aussagen: „22 Torschüsse gegen Gladbach schaffen nicht viele Teams“, sagte er. Das stimmt – und wirkte doch deplatziert.

Leverkusen kann sich jedenfalls die erneute Teilnahme an der Champions League abschminken. Da ist das elf Punkte enteilte Gladbach vor, das am Mittwoch das Pokal-Halbfinale gegen die Bayern spielt. Lucien Favre wird vorher wieder an der Taktik tüfteln. „Aber wichtig“, sagte er noch, „ist der Kopf.“ Dabei hat er einen Finger an die Stirn gelegt. Und gelächelt.