Wilnsdorf.
Im Sommer 1985 schauten die Bürger des Siegener Vororts Eisern genau hin: Eine zierliche Blondine mit unverkennbarem schwäbischen Akzent lieferte die Orchideen von Blumengroßhändler Gerd Neuser aus. Neuser war Trainer der Frauenfußball-Mannschaft des TSV Siegen, das 21-jährige Mädchen war Silvia Neid, die in diesem Jahr vom Weltfußball-Verband zur Welt-Trainerin des Jahres gekürt worden ist.
Im Odenwald-Städtchen Walldürn geboren, hatte Silvia Neid Fleischerei-Fachverkäuferin gelernt. Der Wechsel ins Siegerland brachte nicht nur sportlich große Veränderungen für die elegante Spielerin. Neuser lockte die heutige Bundestrainerin auch mit einer soliden beruflichen Perspektive: Sie sollte in seinem Großhandel die Blumen im Siegerland ausfahren.
„Ich kann mich an die Anfangsjahre in Siegen noch sehr gut erinnern“, blickt Silvia Neid zurück: „Ich kam aus Bergisch Gladbach, musste mich nicht nur in einem neuen Verein, sondern auch in einem komplett neuen Umfeld orientieren. Insofern war es für mich sehr hilfreich und wichtig, eine Bezugsperson wie Gerd Neuser zu haben. Ich habe ihn als verlässlichen Menschen kennen gelernt, der viel Sachverstand und Herzblut in die Sachen hat einfließen lassen, die er anfasste.“
Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die im Sommer mit dem Gewinn der WM im eigenen Land einen weiteren Höhepunkt bringen soll.
Jeweils sechsmal wurde Silvia Neid mit dem TSV Siegen deutscher Meister und Pokalsieger. Bis zu ihrer letzten Partie bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 hatte sie es auf 111 Länderspiele (48 Tore), drei EM-Titel und die Vize-Weltmeisterschaft gebracht. Neunmal spielte sie mit dem TSV im Berliner Olympiastadion im Pokalfinale, die Siegener Delegation war Dauergast in der Spree-Metropole - vor und nach der Wende. Die Stadtväter sahen die blau-orangene Fahne des südwestfälischen Oberzentrums über dem Olympiastadion wehen und waren stolz.
Die legendären Pokalfeiern am Wannsee sind Siegerländer Sportgeschichte. In Berlin beim Cup-Finale 1988 gegen Bayern München (4:0) schoss Silvia Neid drei Tore, eines davon wurde von den Fernseh-Zuschauern zum Tor des Monats Mai gewählt.
Es war die Zeit, in der Siegen bundesweit bekannt wurde. Der Slogan „Siegen heißt gewinnen“ wurde geboren.
Es war die Zeit, in der die Siegener Sportfreunde-Herren als Verbandsligist die Vorspiele vor der Frauen-Bundesliga bestreiten durften. Heutzutage unvorstellbar.
„Es war eine fantastische Zeit“, sagt Silvia Neid. Sie hat viele Titel gewonnen, ihre nachhaltigste Erinnerung ist aber ein Länderspiel: Das EM-Halbfinale 1989 im Siegener Leimbachstadion gegen Italien. „Es war das erste Frauenfußballspiel, das live im deutschen Fernsehen übertragen wurde. Wir gewannen nach Elfmeterschießen und bei der Heimfahrt standen die Menschen mit Fahnen am Straßenrand und haben uns zugejubelt. Das gab dem Frauenfußball in Deutschland den ersten großen Schub.“
Nach elf Jahren beendete Silvia Neid ihre Laufbahn beim TSV Siegen - mit der deutschen Meisterschaft. Danach ging es in Siegen mit dem Frauenfußball abwärts, am Ende kamen nur noch 100 Zuschauer zu den Bundesliga-Spielen. Mittlerweile spielen die Sportfreunde-Damen in der Regionalliga.
„Es ist sehr schade zu sehen, dass ein Verein, der eine führende Rolle in Deutschland gespielt hat, heute gar keine Rolle mehr spielt. Gerade vor dem Hintergrund der vor der Tür stehenden WM“, sagt Silvia Neid. In ihren Worten klingt viel Wehmut mit: „Die Zeit kann man nicht zurückdrehen und die Geschichte nicht mehr ändern.“
Im Sommer 1996 wurde Silvia Neid Assistentin der damaligen Bundestrainerin Tina Theune-Meyer. 2005 beerbte sie ihre Chefin und feierte 2007 den Gewinn der WM in China. Für ihr erstes Pflichtspiel als Bundestrainerin (WM-Qualifikation September 2005, 5:1 gegen Russland) hatte ihr der DFB ein Geschenk gemacht: Es fand vor mehr als 7000 Zuschauern in „ihrem“ Siegener Leimbachstadion statt.
Im Siegerland ist die Bundestrainerin heimisch geworden. Sie lebt in Wilnsdorf, einer kleinen Gemeinde vor den Toren Siegens. Hier fühlt sie sich wohl. „Ich werde gelegentlich gefragt, ob ich nicht lieber in einer Großstadt wohnen wolle. Ich habe das immer verneint“, sagt Silvia Neid: „Ich habe mich eingerichtet, mein soziales Umfeld gefunden. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Ein Stück weit fühle ich mich als Siegerländerin.“
Wenn sie in Wilnsdorf auf die Sauerlandlinie in nördliche Richtung gen Köln fährt, kommt sie schon nach wenigen Minuten an Eisern vorbei, dort, wo sie vor 26 Jahren begann - als Blumenfee aus dem Schwäbischen.