Kiew. Trotz der offenkundigen System-Störungen verteidigen die Spanier vor dem Endspiel der Europameisterschaft 2012 gegen Italien ihre Prinzipien. „Meine Spieler sind reif, zu schaffen, was nie jemand erreicht hat“, sagt Trainer Vicente del Bosque.

Der Ausblick aus den edlen Suiten der spanischen Nationalspieler könnte hübscher sein. Plattenbauten aus Zeiten der Sowjetunion, heruntergekommene Häuserwände, brüchige Fenster und verrostete Verschläge sind auch in der Kiewer Innenstadt noch alltäglich.

Doch wenn Kapitän Iker Casillas seine Kollegen im EM-Endspiel gegen Italien (20.45 Uhr/ZDF und im DerWesten-Ticker) auf den Kiewer Rasen führt, wird die Mannschaft gewiss andere Bilder vor Augen haben. „Wir haben die großartigen Momente von 2008 und 2010 alle noch im Kopf“, sagt Sergio Ramos, „das ist unsere einzigartige Motivation und dafür werden wir so hart arbeiten wie möglich.“ Beim Verteidiger schwingt immer ein bisschen Pathos in der Stimme mit, und dann hat der 26-Jährige auch noch die Redewendung gebraucht, in der es um „la guinda del pastel“ ging, der Krönung auf dem Kuchen, das Tüpfelchen auf dem i. Zweimal Europameister, einmal Weltmeister; das hat noch nie jemand geschafft. Die deutsche Nationalmannschaft, 1972 und 1974 mit Titeln dekoriert, war bei der EM 1976 nahe dran, ehe sich der Dreifach-Coup in der Nacht von Belgrad durch den Elfmeter von Uli Hoeneß verflüchtigte.

Del Bosque mag keine Systemdiskussion mehr führen

Am Unterfangen, Fußball-Geschichte zu schreiben, dürfte wohl auch Cesc Fabregas mittun. Die Anwesenheit des letzten Elfmeterschützen vom Halbfinal-Drama bei der Pressekonferenz dürfte ein untrügliches Indiz gewesen sein, wie Trainer Vicente del Bosque den Italienern beikommen will. Nämlich mit der identischen Taktik vom Gruppenspiel (1:1). Vor drei Wochen hatte die Heimat noch aufgeschrien, als der Nationaltrainer die Nummer zehn als „falschen Neuner“ nominierte. Nun scheinen Einsicht und Überzeugung gereift, dass es auch stürmerlos funktionieren könnte.

Del Bosque mag keine Systemdiskussionen mehr führen, solange die defensive Disziplin es hergibt, auch weniger spektakulär Erfolge zu feiern. Und dem Schnauzbartträger geht es eher um andere Grundsätze. „Meine Spieler sind reif, zu schaffen, was nie jemand erreicht hat“, sagt der 61-Jährige. Del Bosque findet den italienischen Sieg gegen Deutschland gar nicht mal überraschend, „die Italiener waren die Mannschaft, die uns bisher die meisten Schwierigkeiten gemacht hat.“

Spanien will laut Ramos der "Philosophie treu bleiben"

Der Respekt vor den abgezockten Azzurris scheint noch gewachsen, wenn einer wie Fabregas diese Losung fürs Finale ausgibt: „Der Gewinner wird der wahre Champion sein.“ Nur eines werde „la Furia Roja“, die rote Furie, nicht tun: die eigene Anschauung verraten. In dieser Hinsicht scheinen sich alle einig. Del Bosque: „Wir werden niemals unseren Stil ändern.“ Ramos: „Das Wichtigste ist, unserer Philosophie treu zu bleiben.“ Worin nämlich solche Untreue mündet, haben die spanischen Stars im zweiten Halbfinale bei den Deutschen gesehen.