Madrid. Beim Projekt Titelverteidigung muss Spanien auf den Schlüsselspieler David Villa verzichten. Jedoch kann Nationaltrainer del Bosque auf die technisch starken Spieler von Real Madrid und FC Barcelona zurückgreifen. Die größten Rivalen aus der Primera Division vergessen beim Turnier die Feindschaft.
Am 25. April um 23.21 Uhr stand eine ganze Nation still. Als Bayern München nach dem Aus von Vorjahres-Sieger FC Barcelona auch noch Real Madrid aus der Champions League geworfen hatte, schien der spanische Fußball kurzzeitig am Boden. Eine Saison ohne den ganz großen internationalen Titel für eine spanische Mannschaft gab es seit 2007 nicht mehr: "Deshalb werden sie alles daran setzen, den nächsten Triumph einzufahren. Sie werden besonders hungrig sein", sagte der deutsche Nationaltorhüter Manuel Neuer jüngst - und er dürfte rechtbehalten.
Der Sieg bei der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz zerstörte den Mythos, Spanien würde im entscheidenden Augenblick versagen. Fortan galt das Team als Maßstab von Qualität im internationalen Fußball. Der WM-Titel zwei Jahre später erhob die Spanier in den Rang des Weltmarktführers. Noch nie ist es einer europäischen Nationalmannschaft gelungen, drei große Turniere hintereinander zu gewinnen. Der amtierende Welt- und Europameister ist nun bei der EURO 2012 der Favorit. Und ihm ist dieses Kunststück zuzutrauen.
Säulen der Weltmeistermannschaft bleiben bei Spanien erhalten
"Ja, wir haben die notwendige Leidenschaft. Wir sind nach wie vor hungrig", versichert Erfolgstrainer Vicente del Bosque, der seit 2008 die fruchtbare Arbeit von Luis Aragonés fortführt. Bekannt ist der 61 Jahre alte del Bosque für seine Bescheidenheit - nach dem ersten WM-Titel vor knapp zwei Jahren in Johannesburg gab er vollkommen stoisch ein Interview nach dem anderen. Diese Bescheidenheit seinen erfolgsverwöhnten Spielern zu vermitteln, sieht der Chefcoach als seine Hauptaufgabe. "Wenn wir nicht abheben wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als unseren Sieg zu vergessen und uns auf die Zukunft zu konzentrieren", sagt der Mann aus Salamanca.
Spanien ist nicht umsonst die Nummer eins der FIFA-Weltrangliste. Selbst Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger loben Xavi, Andres Iniesta und Co. seit Jahren als "die Besten der Welt". Die Elf, die die Niederlande im Finale 1:0 besiegte, bestand aus zehn Spielern vom FC Barcelona und Real Madrid. Auch in diesem Jahr wird del Bosque seinem Stamm um die altbekannten Stars wie Iniesta, Xavi, Sergio Ramos, Gerard Pique und Kapitän Iker Casillas vertrauen. "Es ist eine Mannschaft, in der es nicht allzu viele personelle Veränderungen gegeben hat. Unser Spielsystem funktioniert schon instinktiv", sagt der Trainer.
Genau dieser Instinktfußball, das eingespielte "Tiki-Taka", hat bisher noch jeden Gegner zermürbt. Die deutsche Mannschaft etwa erlebte im EM-Finale 2008 und auch im WM-Halbfinale zwei Jahre später eine Demonstration der dominanten Spielweise. Zweimal war die Elf von Bundestrainer Joachim Löw weitgehend chancenlos gegen das technisch perfekte Kurzpassspiel. Sogar Real Madrids Torhüter Casillas lobt das Spielsystem, das die Spanier inzwischen auszeichnet, und das eigentlich vom Erzrivalen Barcelona zur Perfektion getrieben wurde. "Dass jetzt Züge des Tiki-Taka in unserem Spiel vorhanden sind, ist gut. Denn Barcelona hat damit Erfolg", sagt der spanische Rekordnationalspieler. Das ist umso bemerkenswerter, als die Jahrzehnte währende Rivalität beider Klubs lange Zeit das Spiel der "Seleccion" zu lähmen schien.
Madrid- und Barcelona-Spieler blenden Feindschaft in der Nationalmannschaft aus
In der spanischen Liga und dem Pokal begegnen sich die Lager der beiden Topteams als Rivalen, in der Nationalmannschaft versuchen sie, die Feindschaft auszublenden. Das gelingt mal besser, mal schlechter - aber in der Summe immer noch gut genug. Durch die Gruppe I der EM-Qualifikation marschierte die Nationalmannschaft mit acht Siegen. In acht Spielen.
Einen Fehlstart wie beim 0:1 gegen die Schweiz zum WM-Einstand 2010 wollen die Spanier in der schweren Gruppe C gegen Italien vermeiden. Helfen sollte dabei ursprünglich David Villa. "Er trifft einfach immer. Die Bälle fallen ihm vor die Füße", sagt Fernando Torres, der zweite Torjäger der Spanier, der sich zuletzt in aufsteigender Form zeigte. Im April reiste del Bosque sogar eigens nach Barcelona, um sich nach dem Gesundheitszustand seines Torgaranten Villa zu erkundigen. Nach einem Schienbeinbruch im Dezember zitterte die ganze Nation um einen ihrer wichtigsten Nationalspieler.
Der Asturier, Schütze von 51 Toren in 82 Länderspielen, derjenige, der den großen Raul (44 Tore) überflügelte, ist für die "Seleccion" ein schmerzlicher Verlust. "Es wurde alles dafür getan, dass er rechtzeitig fit wird", versicherte del Bosque. Doch die Hoffnung war vergebens. Vergangene Woche sagte Villa fürs Turnier endgültig ab. Damit fehlt den Spaniern eine wichtige Waffe im Angriffszentrum. (dapd)