Warschau. Der EM-Gastgeber ist erheblich weiter als Mit-Ausrichter Ukraine. Vor 58.000 Zuschauern auf den seit Monaten ausverkauften Rängen des 375 Millionen Euro teuren Nationalstadions werden die Polen unten auf dem Rasen am 8. Juni um 18 Uhr das Turnier gegen Griechenland eröffnen.

Das wird nichts! Als das Flugzeug zur Landung in Warschau ansetzt, sieht man aus dem Fenster kilometerlange Sandberge. In den Sandbergen wühlen Bagger. Die Sandberge sollten längst eine Autobahn sein. Bis zum Eröffnungsspiel der Fußball-EM am 8. Juni in Warschau wird jedoch nicht mehr unbedingt jeder geplante Kilometer fertig.

Ist das schlimm?

Seit Wochen reden alle nur über die Ukraine, den zweiten Gastgeber der EM. Es wird also Zeit für einen Besuch in Polen.

Wojciech Hodun gehört der Eis-Salon in der Warschauer Altstadt an der Nowomiejska Nummer 7, er soll das beste Eis der Stadt verkaufen. Seine Sorte „Cookies“ mit den zerbröselten Keksen im Eis ist tatsächlich unschlagbar. Welches Eis wird er zur EM kreieren? Hodun schaut ratlos und fragt zurück: „Eis für die EM?“

Freundliche Menschen

In Wolfsburg haben sie vor drei Jahren zum VfL-Titelgewinn den Meisterbecher auf den Tisch gebracht. Grün-Weiß, mit Kiwi-Eis und viel Sahne. Hodun schaut wieder ratlos: „Wolfsburg?“ Er wird kein EM-Eis erfinden.

Fast könnte man glauben, Warschau sei das lateinische Wort für „Stadt, in der freundliche Menschen wohnen, die sich von einer EM nicht aus der Ruhe bringen lassen“.

Aber Reden ist Silber, und Zeigen ist Gold. Pawel Lemski bittet zum Besuch ins Nationalstadion. Die Schranke am Parkplatz und das Flatterband der Bauarbeiter sind nur zufällig rot-weiß, die Außenverkleidung des 375 Millionen Euro teuren Stadions ist nicht zufällig Rot und Weiß. Die Nationalfarben Polens. Vor 58.000 Zuschauern auf den seit Monaten ausverkauften Rängen werden die Polen unten auf dem Rasen am 8. Juni um 18 Uhr das Turnier gegen Griechenland eröffnen.

„Schön geworden, oder?“, fragt Lemski, der während der Bauphase einen der Zement-Mischwagen gefahren hat. Doch es ist nicht schön geworden, es ist sehr schön geworden. Lemski nickt zufrieden.

Stehränge ziehen Hooligans an

Das Stadion ist wie ein Ufo hinter dem Ufer der Weichsel im Stadtteil Praga gelandet. Ein Problem-Stadtteil. Touristen sollten bisher nachts nicht unbedingt alleine zwischen den Hochhäusern von Praga spazieren gehen. Mit dem Stadion vor der Haustür des Problem-Viertels soll nun vieles besser werden. Warum es durch ein Stadion besser werden soll, kann allerdings niemand so ganz genau erklären.

Zumal die Stehränge der polnischen Erstliga-Stadien Hooligans anziehen wie ein Magnet die Eisenspäne.

Von oben, vom anderen Ufer der Weichsel, fällt der Blick vom Schlossplatz auf das Nationalstadion und Praga. Tomasz schleppt die Bierkrüge im „Krolewski“ von der Theke zu den Tischen, die er draußen in der Abendsonne aufgebaut hat. „Im vergangenen Jahr haben Hooligans von Legia Warschau selbst hier oben in der Altstadt alles aufgemischt.“ Polnische Hooligans haben viel mit Alkohol zu tun. Woda heißt auf Polnisch das Wasser, bis zum Wässerchen ist es nicht weit. Wässerchen heißt Wodka.

Alkohol in Stadien nicht erlaubt

In den Stadien hat die Regierung längst den Alkohol verboten, doch die Welt funktioniert nicht immer nach einfachen Prinzipien. Die Eisenbahnbrücke, über die die Fans bei der EM zum Stadion-Bahnhof gefahren werden, ist verhüllt mit Werbeplakaten: Carlsberg. Der dänische Bierbrauer ist einer der Hauptsponsoren der EM. Auf seiner Internetseite wirbt die Brauerei für eine Ticket-Verlosung. Jeder, der einen Sixpack oder einen Kasten kauft, kann Eintrittskarten für die EM gewinnen.

Es wächst nicht immer das zusammen, was auch zusammen gehört.

Doch in Polen gibt es einen Unterschied zwischen dem Vereinsfußball und der Nationalmannschaft. Bei den Vereinen kann es auf den Rängen üblen Ärger geben, dazu haben Korruptions-Skandale mit nachfolgenden Haftstrafen die Klubs erschüttert. Dagegen hat die Nationalelf den werbetechnischen Sprung zu einem angesagten Premium-Produkt geschafft. Die gebildete Mittelschicht, die über genug Geld verfügt, reist gerne mit der Nationalelf zu den Auswärtsspielen und gefällt sich in der Rolle der intellektuellen Fußball-Fans.

Tomasz schleppt neue Bierkrüge heran. Er hat keine Eintrittskarte bekommen. „Natürlich wäre ich hingegangen“, sagt er. „In unserer Vorrunden-Gruppe können wir uns durchsetzen gegen die Russen, die Griechen und die, ähm, die...“ Tomasz fällt gerade der dritte Vorrunden-Gegner der Polen nicht ein.

Warschau ist wohl tatsächlich die Stadt, in der sich die Menschen von der EM nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen.

Lewandowski kam in Warschau zur Welt

Der dritte Gegner heißt Tschechien. Robert Lewandowski weiß das natürlich. Der Torjäger der polnischen Nationalelf, der bei Borussia Dortmund sein Geld verdient, ist ebenfalls jemand, der sich im Gespräch nicht aus der Ruhe bringen lässt. Er kann auch gut wegschauen und schweigen. Er ist in Warschau zur Welt gekommen.

Sein bester Freund, der Enthusiasmus, packt ihn dagegen regelmäßig auf dem Rasen. Beim Reden über die EM in seinem Heimatland schiebt er aber lieber die Gegner nach vorne: „Russland ist der Favorit in unserer Gruppe“, behauptet er. Glauben muss man ihm jedoch nicht alles. Er sagt schließlich auch: „Die EM lohnt sich nicht nur sportlich für uns. Wenn ich aus Dortmund nach Hause fahre, habe ich jetzt eine durchgehende Autobahn.“

Man würde es ihm ja gerne glauben, aber als das Flugzeug zum Rückflug startet, wühlen sich die Bagger beim Blick durchs Fenster immer noch durch die Sandberge.

Aber die Frage vom Anfang lässt sich nun wenigstens endlich beantworten: Nein, schlimm ist das nicht.