London. Die Inzidenz in London ist hoch. Trotzdem findet dort das EM-Finale vor Zuschauern statt. Mögliche Folgen werden erst nachher sichtbar sein.
Es ist selten, dass man so viele Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sieht, die so offensichtlich glücklich darüber sind, zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Die Zeit ist Mittwochabend, der Ort das Wembley-Stadion in London.
20 Minuten vor Anpfiff des EM-Halbfinals zwischen England und Dänemark bringt sich das Publikum in Stimmung. Aus den Boxen kommt das Lied “Whole Again” von der englischen Pop-Gruppe Atomic Kitten. Die Fans singen in voller Lautstärke mit, allerdings haben sie den Text abgewandelt und ihrem Trainer gewidmet: “Southgate you’re the one, you still turn me on. Football’s coming home again.” Überall sieht man Menschen, die überlaufen vor Aufregung. Wenige Reihen vor den Plätzen für die Reporter stehen zwei Männer Arm in Arm, offenkundig ein Vater mit seinem erwachsenen Sohn. Einer der freiwilligen Helfer von der Uefa macht ein Foto von ihnen, sie lächeln. Im Hintergrund liegt der perfekte Wembley-Rasen, über dem Stadion scheint noch die Sonne. Es ist schwer, die Szenerie nicht ergreifend zu finden.
Wembley-Stadion: Zuschauer singen leidenschaftlich mit
Rund drei Stunden später, England hat durch das 2:1 in der Verlängerung zum ersten Mal seit 55 Jahren ein Turnier-Finale erreicht, ist der Frohsinn noch ausgelassener. Aus den Lautsprechern donnert “Sweet Caroline!”, die inoffizielle EM-Hymne der Engländer. Die Zuschauer singen so leidenschaftlich mit, dass ihnen am Tag danach die Stimme versagt haben dürfte. Die Fans stehen auf den Sitzen, liegen sich in den Armen, springen auf und ab. Tränen sind zu sehen. Rechts neben den Journalisten-Plätzen klatscht ein kleiner Junge im Takt und strahlt, überwältigt von allem, was um ihn herum passiert. Trotz fragwürdiger Entstehung des entscheidenden Elfmeters, der den Siegtreffer durch Harry Kane brachte, ist es als neutraler Betrachter im Stadion schwer, sich in diesem Moment nicht für die Engländer zu freuen.
Doch die große Frage ist natürlich, die Frage, die niemand stellt, aber die trotzdem über der rauschenden Veranstaltung im Wembley-Stadion schwebt: Wie gefährlich ist das alles?
EM in elf Ländern während einer globalen Pandemie
Eine EM in elf Ländern in Zeiten einer globalen Pandemie abzuhalten, das war von Beginn an umstritten, doch das vergangene Jahr hat bewiesen, dass es möglich ist, Sportveranstaltungen sicher über die Bühne zu bringen. Diese fanden allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder vor sehr überschaubarem Publikum statt. Bei der EM ist das anders. Die Stadien sind voller als im vergangenen Jahr, teilweise sogar sehr viel voller. In die Puskás-Aréna in Budapest wurde bekanntlich bei kompletter Auslastung gespielt, zu jeder der vier Partien waren 61.000 Zuschauer zugelassen. Eine Maskenpflicht bestand nicht. Angeblich erhielten nur Menschen mit voller Impfung oder negativem PCR-Text Einlass.
Das Londoner Wembley-Stadion, die mit Abstand größte Arena des Turniers, operierte in der Vorrunde mit 22.500 Zuschauern. Bei den Halbfinals zwischen Italien und Spanien (4:2 nach Elfmeterschießen) und England gegen Dänemark (2:1 nach Verlängerung) waren mehr als 60.000 Menschen zugegen. So soll es auch beim Endspiel an diesem Sonntag zwischen England und Italien sein. Für VIPs, Sponsoren und sonstige Ehrengäste erreichte die Uefa Ausnahmen von den aktuellen Quarantäne-Regeln im Vereinigten Königreich. Diese schreiben eigentlich zehn Tage Isolation vor bei der Einreise aus den meisten europäischen Ländern.
Sorgenvolle Töne aus Deutschland von Bundeskanzlerin Angela Merkel
Mit der hohen Auslastung des Wembley-Stadions ist die britische Regierung der Uefa entgegen gekommen, nachdem diese offenkundig damit gedroht hatte, die entscheidenden Partien des Turniers ansonsten nach Budapest zu vergeben. Dass die Halbfinals und das Finale vor so vielen Fans stattfinden, während die Fallzahlen im Vereinigten Königreich wegen der Delta-Variante auf dem höchsten Stand seit Ende Januar sind und die Sieben-Tage-Inzidenz bei fast 270 liegt – das hat viel Kritik im Ausland ausgelöst.
Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Beispiel betonte kürzlich bei ihrem Treffen mit Premierminister Boris Johnson, dass ihr die Massenveranstaltungen in Wembley Unbehagen bereiten würden: “Ich bin sorgenvoll und skeptisch, ob das gut ist und nicht ein bisschen viel.” Deutlicher äußerte sich zur Zuschauer-Frage Innenminister Horst Seehofer. Er nannte das Vorgehen der Uefa “absolut verantwortungslos”. Diese schiebt die Verantwortung natürlich weiter und verweist darauf, dass die Auslastung der Stadien an den einzelnen Spielorten im Einklang stehen würde mit den Corona-Regeln in den jeweiligen Ländern.
In London sind die Zeitungen voll mit den Heldentaten der Engländer
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In London kommt von dieser Debatte wenig an. Die Zeitungen sind voll von den Heldentaten der englischen Mannschaft, die an diesem Sonntag zum ersten Mal Europameister werden kann. Es wäre der erste Titel bei einem bedeutenden Turnier für die Engländer seit dem Erfolg bei der WM 1966, ebenfalls im heimischen Wembley-Stadion. Die Corona-Problematik bei der EM wird weitgehend ignoriert. Das war auch bei den Feier-Szenen aus den Zentren der großen englischen Städte nach dem Final-Einzug zu sehen. Dazu muss man sagen, dass England bei der Aufhebung der Corona-Beschränkungen deutlich früher dran war als Deutschland, dass man also schon länger eine gewisse Normalität verspürt. Die Außengastronomie öffnete Mitte April, seit Mitte Mai darf man in Restaurants, Kneipen und Bars auch wieder drinnen sitzen. Der 19. Juli wurde zum “Freedom Day” erklärt – dann sollen in England so gut wie alle restlichen Restriktionen fallen. Trotz steigender Zahlen und Delta-Variante.
Premierminister Boris Johnson kann auf eine erfolgreiche Impfkampagne verweisen. Knapp 87 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in England ist laut Regierung mindestens einmal geimpft, 65 Prozent sogar doppelt. Diesen Fortschritt bei der Immunisierung nennt Johnson als Grund dafür, dass der “Link” zwischen der Zahl von Infektionen und Toten “getrennt” worden sei. Dass sich Menschen also noch infizieren würden, schwere Krankheitsverläufe aber deutlich seltener seien. Die Fakten scheinen diese These zu stützen. Trotz der hohen Fallzahlen (32.551 Fälle am Donnerstag) ist die Zahl der Toten im Vereinigten Königreich im Vergleich zu den vorherigen Corona-Wellen gering.
Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Problematik mit der Pandemie bei den Spielen im Wembley-Stadion kein großes Thema ist, dass sich die Zuschauer in Sicherheit wähnen. Ein anderer Grund ist vermutlich dieser: Wenn eine EM stattfindet, abgesegnet von Verbänden, Behörden, Regierungen, wenn so viele Zuschauer zugelassen sind wie seit Beginn der Pandemie im März des vergangenen Jahres nicht mehr, und wenn die eigene Mannschaft dann auch noch historisch gut spielt – dann ist es menschlich, dass die Fans sich dem Rausch auch hingeben.
London: Die Züge sind voll, die Masken-Disziplin mäßig
Für deutsche Betrachter sind die Zustände in London eine Parallelwelt. Die Züge der Tube zum Wembley-Stadion im Nordwesten der Stadt sind überfüllt, die Masken-Disziplin ist mäßig. Steigt man an der Station “Wembley Park” aus, liegt vor einem der Olympic Way, eine Straße wie mit dem Lineal gezogen, die zum Stadion führt. Sie ist vor den Spielen gefüllt mit Tausenden Menschen. Es wird gesungen und getanzt, Gruppenphotos werden gemacht, mit Wembley und seinem ikonischen Riesenbogen im Hintergrund. Die Einhaltung irgendwelcher Abstände ist utopisch. In den Gesängen und der Musik aus allen Richtungen haben es die Lautsprecher-Durchsagen schwer, mit denen die Zuschauer aufgefordert werden, den Nachweis über ihren negativen Corona-Test oder eine doppelte Impfung bereit zu halten. Man gewöhnt sich allerdings an die englischen Zustände. Kollegen, die schon seit EM-Beginn in London stationiert sind, gehen deutlich gelassener mit der gelebten Freiheit um als solche, die erst zu den Halbfinals angereist sind und das Treiben mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Beklemmung sehen.
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EM: Europäische Gesundheitsbehörde zählt mehr als 2500 Fälle
Wie verheerend die EM ist für das Infektionsgeschehen in Europa, das wird sich vermutlich erst hinterher seriös sagen lassen. Doch viel deutet darauf hin, dass das Turnier ein Infektionstreiber ist. Die europäische Gesundheitsbehörde ECDC hat bisher mehr als 2500 Ansteckungen gezählt, die im Zusammenhang mit der EM stehen. Am stärksten betroffen ist demnach Schottland mit fast 2000 Fällen. In Finnland wurden 436 Fälle registriert, nachdem die finnische Nationalmannschaft zwei ihrer drei Gruppenspiele in St. Petersburg gespielt und das Virus möglicherweise von dort mitgebracht hatte. Eine Untersuchung des Imperial College in London kam zu dem Schluss, dass das Risiko einer Infektion bei Männern um ein Drittel höher ist als bei Frauen. Möglicherweise ist daran die EM Schuld. “Es könnte sein, dass das Fußballschauen dazu führt, dass Männer sozial aktiver sind als sonst”, sagte Studienautor Steven Riley der BBC.
Die gute Nachricht aus Sicht derer, die sich Sorgen machen wegen der Pandemie und der EM: es ist fast geschafft. Das Turnier ist fast vorbei. Ein Spiel noch, das Finale an diesem Sonntag. Die schlechte Nachricht: egal, ob England oder Italien Europameister wird – die Euphorie dürfte im Land des Siegers keine Grenzen kennen. Und damit wohl auch keine Vorsicht vor dem Virus.