London. Trainer Kasper Hjulmand zeigt sich nach dem 1:2 im EM-Halbfinale gegen England schwer verärgert. Was ihm bleibt: Ein Team mit Zukunft.
Vielleicht war es Übermut. Vielleicht fühlte sich Kasper Schmeichel nach einer sensationellen Partie zu stark. „Er hat so viel Energie, er könnte alles machen, was er will“, sagt sein Teamkollege Martin Braithwaite über ihn. Nun, in dieser 104. Minute des EM-Halbfinals wollte Schmeichel: den Ball festhalten. Den schwachen Elfmeter von Harry Kane nicht bloß irgendwie wegboxen, gar nicht erst eine Nachschusschance ermöglichen. Doch der Fangversuch misslang, und der Ball fiel dadurch Kane erst recht vor die Füße. Beim zweiten Mal hatte Englands Kapitän kein Problem.
Raheem Sterling und der Hauch des Skandalösen
Dänemarks starkes Turnier endete so in bitterer Ironie. Wie natürlich auch im Zorn. Denn dass es diesen entscheidenden Elfmeter beim Stand von 1:1 überhaupt gab, hatte ja den Hauch des Skandalösen. Erst waren zwei Bälle auf dem Platz gewesen, genau in der Zone rechtsaußen, durch die Englands Raheem Sterling sein Solo startete. Nachdem ihn dieses in den Strafraum getragen hatte und dort den Kontakt mit Außenverteidiger Joakim Mæhle suchen ließ, fiel er hin. Hart am Rand zur Schwalbe, jedenfalls kein Elfmeter, außer für Sterling selbst und Schiedsrichter Danny Makkelie, dem der Videobeweis keine Chance gab, die Szene noch einmal anzuschauen.
Statt einer Fortsetzung der anrührenden Reise aus der Verzweiflung nach dem Zusammenbruch von Christian Eriksen zum Titelkandidaten, vom Europameister der Herzen zum EM-Finalisten gab es also: Polemik. Zwar entspricht es nicht dem dänischen Selbstbild, zu jammern und Ungerechtigkeiten zu beklagen. Auch fehlen dem kleinen Land die medialen Lautsprecher einer großen Fußball-Nation. Aber die Verstimmungen über die Umstände des Ausscheidens waren nach dem Abpfiff im Wembleystadion doch klar zu vernehmen. „Sehr verärgert“ und „sehr enttäuscht“ sei er, sagte Trainer Kasper Hjulmand. „Es ist hart für mich, darüber zu sprechen“. Mittelfeldspieler Pierre-Emile Højbjerg fand derweil zumindest ein Wort: „Scheiße“.
Dänen spielten zu zehnt, der Elfte konnte nicht mehr stehen
Als England einmal führte, war das Spiel gelaufen. Schon seit Mitte der zweiten Halbzeit waren die Dänen nicht mehr wirklich vor das gegnerische Tor gekommen, schon da meinte man auf der Tribüne die Schmerzen spüren zu können, die sie bei jedem Sprint empfinden mussten. Dass die enormen Kräfte, die das Team nach dem Eriksen-Schock und zwei Auftaktniederlagen in sich zu stimulieren schaffte, irgendwann ein Loch reißen würden, schien schon länger klar. Dazu hat England zwar nicht viel Kreativität zu bieten, erfordert aber mit seiner schnellen, muskulösen Spielweise eine physisch aufwändige Gegenwehr. Und dann war da ja auch noch der Faktor Baku.
Dort hatten die Dänen am Samstag in 4000 Kilometer Entfernung in so schwüler Hitze gespielt, dass ihnen dort schon vor dem Anpfiff der Schweiß über das Trikot gelaufen war. In London nun musste Hjulmand schon Mitte der zweiten Halbzeit drei seiner besten Profis vom Platz nehmen. Bald folgte mit Andreas Christensen der erste Verletze, am Schluss spielten sie nur noch zu zehnt, weil der Elfte nicht mehr stehen konnte.
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Dänemarks Resistenz war heroisch, ja, und Schmeichel hätte nach etlichen Glanzparaden große Chancen gehabt, es seinem Vater Peter gleichzutun, der 1992 nach einer ähnlichen Abwehrschlacht im Elfmeterschießen gegen die Niederlande den Finaleinzug sicherte. Aber dieser letzte historische Parallele, der letzte Wink des Schicksals blieb dem Überraschungsteam des Turniers verwehrt. „Sie gaben alles“, resümierte die Zeitung „Jyllands-Posten“: „Aber es war nichts mehr zum Geben da.“
Was jedoch bleibt, ist nicht nur die außergewöhnliche Kommunion mit dem eigenen Land, welche die Fankolonie von Exil-Dänen im Wembleystadion ein vorerst letztes Mal zur klassischen Schnulze „Vi er røde, vi er hvide, vi står sammen side om side“ („Wir sind rot, wir sind weiß, wir stehen zusammen Seite an Seite") beschunkelte. Nein, da ist auch ein Team mit Zukunft.
Dänemark gab den Schatz zu schnell aus der Hand
Spieler wie Mæhle, 24, von Atalanta Bergamo oder der 21-jährige Angreifer Mikkel Damsgaard gehörten zu den Entdeckungen dieser EM. Damsgaard schenkte ihr mit seinem herrlichen Führungstor im vorletzten Spiel sogar noch den ersten Treffer nach einem direkten Freistoß (30. Minute).
Es war zugleich der erste Treffer überhaupt gegen England bei diesem Turnier. Doch die Dänen gaben diesen Schatz zu schnell wieder aus der Hand, als sie sich über ihre linke Abwehrseite ausspielen ließen und Simon Kjær beim Rettungsversuch gegen Sterling das elfte Turniereigentor produzierte. Es war dieselbe Seite vor der dänischen Kurve, über die Sterling auch in jener fatalen 104. Minute kommen sollte. Doch dass sie die Szene so gut sahen, machte sie für die Fans sicher nicht erträglicher.