Florenz. Die Italiener spielen so attraktiv wie selten zuvor. Verantwortlich dafür ist Roberto Mancini. Der Trainer hat den EM-Titel im Visier.

Beii dieser EM passieren ja so einige ungewöhnliche Dinge. Ein englischer Sieg in der K.o.-Runde gegen Deutschland, ein Viertelfinaleinzug der Schweiz, eine nie gesehene Flut von Eigentoren, und so weiter. Als historisches Novum konnte außerdem die Frage gelten, die Roberto Mancini dieser Tage gestellt wurde. „Ist Italien die schönste Mannschaft des Turniers?“ Die mit dem attraktivsten Fußball also?

Für so eine Unterstellung wäre einer früher ausgelacht worden. Italien – so wollte es das Klischee und bisweilen schon auch die Wirklichkeit –, das war die Kunst des 1:0. Fußballerische Schönheit wurde in erster Linie akzeptiert, wenn sie zur Verfeinerung des Catenaccio nötig war, also etwa durch Fallrückzieher im eigenen Strafraum. Nun aber war es nicht die Frage, sondern Mancinis Antwort, die für Lacher sorgte. Italiens Nationaltrainer sagte: „Wir sind schöne Jungs, so viel ist schon mal klar.“

Die Einschätzung gilt nicht zuletzt für ihn selbst. Mancini sieht mit seinem langen Haar und seiner angeborenen Eleganz auch mit 56 immer noch so aus, dass er an jedem Adria-Strand den Bilderbuch-Bademeister geben könnte. Auch wenn er dort in Wahrheit mit seiner Yacht ankert. Der „commissario tecnico“ strahlt eine unangestrengte Form von Glamour aus und kann damit selbst nach den hohen Maßstäben des stilbewussten Italiens als Stilikone gelten.

Wie ein Gemälde von van Gogh

Wenn er schon vor Turnierbeginn von der „Straße nach London“ sprach, meinte er damit aber trotzdem keinen Einkleidungs-Trip. Im übrigen auch nicht das Achtelfinale, das seine Mannschaft jüngst im Wembley-Stadion gegen Österreich gewann. Ja nicht einmal das Halbfinale, das Italien am Freitag durch einen Sieg im Spitzenspiel der Runde der letzten Acht gegen Belgien in München (21 Uhr/ZDF) erreichen kann. Nein, Mancini meinte das Finale. Und damit natürlich auch den EM-Titel.

Wer Italien zuletzt bei der verpassten Qualifikation für die WM 2018 gesehen hatte, mochte über so viel Zuversicht staunen. Tat das dann aber noch mehr, als er Mancinis Team mit modernem, variablen Offensivspiel durch die Vorrunde stürmen sah. „Wir spielen jetzt Fußball“, benannte der Abwehrveteran Leonardo Bonucci den Unterschied zu früher. Gar mit van Gogh vergleicht Mittelfeldmann Matteo Pessina die Auftritte: „Mir gefällt es, unser Team wie ein Bild von ihm zu sehen: schön und einzigartig.“

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Solche Elogen bedeuten einen Bruch in der Biographie eines Trainers, der an seinen Vereinsstationen wie Inter Mailand und Manchester City eher zweckorientierten Fußball zur Aufführung brachte. In anderer Hinsicht blieb sich Mancini allerdings immer treu: Das sieht man an seinem Trainerteam, in dem sich etliche Weggefährten aus seiner Spielerzeit befinden, allen voran Delegationsleiter Gianluca Vialli.

Gutes Gespann mit Vialli

Bei Sampdoria Genua bildeten beide einst ein legendäres Sturmduo, das den Verein zur Meisterschaft, einem Europacup-Titel der Pokalsieger und in ein Champions-League-Finale führte. Halbspitze Mancini war das Genie, Mittelstürmer Vialli brachte die Dynamik ein. „In meinen Toren war sein Fuß drin, und in seinen meiner“, definierte Vialli die symbiotische Beziehung. Man liebte und stritt sich; war Letzteres der Fall, wurde wochenlang geschmollt und sich im Training nur beim Nachnamen angesprochen. „Wir sind nicht nur Freunde, sondern Brüder“, sagt Vialli, der es eine Ehre nennt, für Mancini zu arbeiten. „Ich hätte damals nicht gedacht, dass er ein so großer Trainer wird. Er hat ein wunderbares Ambiente geschaffen. Wenn Spieler an ihren Trainer glauben, können sie über Wasser gehen.“

Und wenn nicht? Bei Italiens Heim-Weltmeisterschaft 1990 spielte Mancini keine einzige Minute. Die Erfahrung des Mitläufers hat ihn so tief geprägt, dass er sie seinen Spielern niemals zumuten wollte. Bereits im dritten Gruppenspiel gegen Wales waren alle Feldspieler zu ihrem EM-Einsatz gekommen, Mancini wechselte in der Schlussminute sogar den Ersatztorwart ein.

Seine seit 31 Spielen ungeschlagene Mannschaft mischt Erfahrung und Jugend, Spielfreude und Schlagkraft. Am Freitag steht sie mit der Partie gegen Belgien aber vor dem härtesten Test, seit im September 2018 in Portugal zuletzt verloren wurde. „Als Spieler habe ich mit den Azzurri nichts gewonnen“, erklärte Mancini: „Ich will die Revanche.“