Schön, dass bei der EM wieder Zuschauer auf den Rängen sind. Schlecht, dass Ungarn voll ins Risiko geht. Ein Kommentar
Natürlich ist es erfreulich, in den Stadien wieder Menschen zu sehen und zu hören, ihre Reaktionen wahrzunehmen. Jubel, Stöhnen, Pfiffe – all das, was unter dem Begriff Atmosphäre zusammengefasst wird, hatte bei den Geisterspielen so sehr gefehlt. Da die Inzidenzwerte in vielen Ländern bei weitem nicht mehr so bedrohlich wirken wie noch vor wenigen Monaten, scheint die Teilöffnung der Arenen ein überschaubares Risiko zu sein. Es dabei nicht zu übertreiben, ist kluge Taktik.
Befremdlich sind deshalb die Bilder, die uns Ungarn liefert. 55.000 Besucher drängelten sich beim 0:3 gegen Portugal ins Stadion von Budapest. Auf den Bildschirmen vor Ort wurde zum Tragen einer Maske aufgefordert, doch kaum einer nahm diesen Hinweis ernst. Schon vor der Partie waren rund 25.000 Ungarn vom Heldenplatz zur Puskas-Arena marschiert, eng an eng, feiernd, johlend, Böller und Rauchbomben zündend. Als sei Corona endgültig ein Schrecken der Vergangenheit.
Kritiker: Regierungs-Chef Orban will den Nationalstolz stärken
Der Fußball wird mal wieder als Bühne missbraucht. Diesmal vom Regime des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Regierungskritiker halten ihm vor, durch die EM den Nationalstolz stärken zu wollen. Orbans Kalkulation sei klar: Erstens würde die Nationalmannschaft von der großen Zuschauermenge noch mehr angetrieben; zweitens solle der Rest von Europa sehen, dass Ungarn die Pandemie im Griff habe.
Daran zumindest, das muss man schon festhalten, ist etwas Wahres. Die Sieben-Tages-Inzidenz in Ungarn lag am Spieltag bei 9,3, und 42 Prozent der 9,8 Millionen Einwohner sind bereits vollständig geimpft. Ins Stadion gelassen wurden nur die drei G: Geimpfte, Genesene und Getestete. Und doch sendeten sie die falschen Signale.
SPD-Gesundheits-Experte Lauterbach nennt Verhalten „rücksichtslos und unsportlich“
„Während halb Europa und 95 Prozent der ärmeren Welt noch nicht geimpft sind, verhält man sich so, als ob die Pandemie vorüber wäre“, schrieb der SPD-Gesundheits-Experte Karl Lauterbach bei Twitter und nannte das Verhalten der Ungarn „rücksichtslos und unsportlich“. Natürlich kann das Experiment auch gut gehen, wer weiß das schon. Aber Leichtsinn und Zügellosigkeit passen bei aller Freude über sinkende Infektionszahlen noch nicht in diese Zeit.