Lille. Chris Coleman wurde 2011 nach dem Selbstmord von Gary Speed walisischer Nationaltrainer. Mit dem Team überwand er den Tod des Freundes. Jetzt steht er im EM-Halbfinale.

Eigentlich blickt Chris Coleman kurz vor dem EM-Halbfinale am Mittwoch gegen Portugal (21 Uhr/ARD) nur widerwillig zurück. Es sei zwar „verführerisch, inne zu halten und zu schauen, was wir erreicht haben“, sagt der Trainer der walisischen Nationalmannschaft, die zur größten Sensation dieser Europameisterschaft avanciert ist. „Aber sobald man damit anfängt, geht Aufmerksamkeit für die Zukunft verloren.“ Reicht die Retrospektive aber über die vergangenen drei Wochen hinaus, gibt der 46-Jährige bereitwillig Auskunft. Der Erfolg dieser walisischen Mannschaft basiert nämlich auf einem tragischen Gründungsmythos, an den sich in diesen Tagen viele Waliser zurückerinnern.

Selbstmord des Vorgängers belastet

Die „dunklen Tage sind noch gar nicht so lange her“, sagt Coleman in Anspielung auf den 27. November 2011. Damals hieß der Trainer der Waliser Gary Speed, ein Jugendfreund von Coleman. Die beiden kannten sich seit ihrem zehnten Lebensjahr, doch an jenem Herbstsonntag tötete sich der Ex-Profi von Leeds United völlig überraschend selbst. Dies sei der „schlimmste, schlimmste, schlimmste Tag“ in seinem Leben gewesen, erzählt Coleman, der die Nachfolge antrat und zunächst mal zum einzigen Trainer der walisischen Geschichte wurde, der seine ersten sechs Partien im Amt verlor.

Nach einem besonders schlimmen 1:6 gegen Serbien und der verpassten Qualifikation für die WM in Brasilien wollte er aufgeben. Er sei „sicher“ gewesen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein und fürchtete, die Mannschaft sei außer Stande, das Trauma zu verarbeiten. „Gary ist immer in meinen Gedanken, nicht nur bei dieser EM. Er war ein besonderer Mensch, jemand, an den ich oft denke und der mir immer fehlen wird“, erzählt Coleman. Irgendwann hatten  Mannschaft und Trainer das Erlebte verarbeitet. Es entstand jene Kraft, die sich entwickelt, wenn eine Gruppe gemeinsam schwere Gewässer durchschifft. In jenen Tagen erwies Coleman sich als Glücksfall. Er ist ein Mann mit psychologischem Geschick, das kann man auch während dieser EM-Wochen beobachten.

Wenn seine Mannschaft zum Beispiel als fröhlicher Außenseiter beschrieben wird, der jetzt befreit von jedem Druck aufspielen könne, verdüstert sich Colemans Miene. Er könne das „Bla, Bla, Bla“ der Leute nicht mehr hören, die sagen: „Wales hat hier nichts mehr zu verlieren“. Das sagt er mit einer ungewohnten Schärfe. Die Rolle des lustigen Underdogs auf Abenteuertour nervt, „das ist nicht die Haltung, mit der wir in die Spiele gehen wollen“, erklärt er.  „Das hier ist eine Riesenherausforderung, ich will den Druck“, sagt Coleman, denn der Druck sei „fantastisch“.

„Durch und durch Waliser“

Mit solchen Kniffen hat er seiner Mannschaft nicht nur eine imponierende Wettkampfhaltung vermittelt, er hat auch fußballerische Potenziale zur Entfaltung gebracht, die kaum jemand in diesem Kader gesehen hatte. Im Viertelfinale gegen Belgien überzeugte Wales plötzlich spielerisch. „Er dreht jeden Stein um, in der Kunst der Spielvorbereitung ist er allen anderen überlegen“, sagt Starspieler Gareth Bale.

Coleman, der als Verteidiger für britische Teams wie Swansea, Fulham, Blackburn und Crystal Palace spielte, seine Karriere aber nach einem Autounfall beenden musste, überschüttet seine Spieler nicht mit Informationen. „Er sagt uns genau, was wir brauchen, nicht zu viel und nicht zu wenig“, erzählt Bale. Inzwischen ist Coleman sogar schon als Nachfolger für den zurückgetretenen englischen Kollegen Roy Hodgson im Gespräch.

„Das ist eine Sache, über die würde ich nicht im Traum nachdenken“, sagt Coleman. Er möchte lieber irgendwann ein Champions-League-Team betreuen. „Ich bin durch und durch Waliser und mein nächster Job wird irgendwo im Ausland sein.“ Die Erfüllung dieses Wunsches erscheint längst alles andere als utopisch.