Dortmund. Andreas Beck spielte zwei Jahre für Besiktas Istanbul. Im Interview erklärt er, was für eine besondere Atmosphäre den BVB erwartet.

Pünktlich auf die Sekunde klingelt das Telefon und es meldet sich Andreas Beck. Typisch deutsch, könnte man meinen, und tatsächlich hat der Rechtsverteidiger schon manches Mal erklärt, dass er ein großer Freund der sogenannten deutschen Tugenden ist: Disziplin, Arbeit, Fleiß. Das hat sich der 35-Jährige bewahrt, auch auf seinen Auslandsstationen. Aktuell spielt er für die KAS Eupen, Tabellensechster der belgischen Liga. Von 2015 bis 2017 aber lief er für Besiktas Istanbul auf, wo Borussia Dortmund an diesem Mittwoch (18.45 Uhr/DAZN) in der Champions League auftritt. Der frühere Nationalspieler weiß also genau, was den BVB erwartet. Im Interview spricht der 35-Jährige mit großer Begeisterung über die kribbelnde Atmosphäre im Vodafone-Park, die besondere Art der Besiktas-Fans, eine Meisterfeier auf dem Bosporus – und die Qualitäten des Dortmunder Gegners.

Herr Beck, worauf muss sich der BVB am Mittwoch einstellen?
Andreas Beck: Am imposantesten sind die Fans. Die Dortmunder sind es natürlich gewohnt vor einer spektakulären Kulisse zu spielen. Aber bei Besiktas ist es noch einmal eine andere Atmosphäre. Es sind sehr fanatische, sehr emotionale Fans. Das Wort wird oft benutzt, aber hier kann man wirklich sagen, dass das Stadion ein echter Hexenkessel sein kann.

Auch wenn wegen der Corona-Pandemie weniger als die sonst erlaubten 41.903 Zuschauer im Stadion sein werden?
Andreas Beck: Auf jeden Fall. Die Fans machen ohrenbetäubenden Lärm. Natürlich, ein volles Stadion wäre noch einmal anders. RB Leipzig hat ja schon einmal leidvoll erfahren müssen, was da los sein kann.

Im September 2017 war das, Leipzig spielte bei Besiktas, die Fans pfiffen in ohrenbetäubender Lautstärke und Timo Werner musste wegen Kreislaufproblemen ausgewechselt werden.
Andreas Beck: Ich habe schon oft gesagt: 10.000 Zuschauer in der Türkei können mehr Lärm machen als so manch volles Stadion in der Bundesliga. Wir hatten einige phänomenale Spiele in der Arena, gerade auch international. 2016 haben wir mal in der Champions League gegen Benfica Lissabon 0:3 zurückgelegen, konnten aber ein 3:3 herausholen. Das war absolut den Fans geschuldet, da kann das Stadion wirklich zum Kochen kommen.

Erzählen Sie gerne mehr von diesem Spiel.
Andreas Beck: Das war unfassbar. Wir sind mit hoher Erwartungshaltung hereingegangen – und die ersten drei Chancen des Gegners waren gleich alle drin, darunter ein richtiger Sonntagsschuss. Es lief eigentlich alles gegen uns, obwohl wir nicht einmal schlecht gespielt haben. Aber als Spieler von Besiktas weißt du immer: Du brauchst nur diesen einen Moment, der das Fass hier zum Überlaufen bringen kann. Und dieser Moment kam mit dem 1:3. Und dann ist die die Stimmung mit einem Schlag anders. Es war sofort lauter, hitziger, und wir hatten Oberwasser. Und dann kann so eine Halbzeit in Istanbul sehr lang sein für den Gegner. Am Ende hätten wir sogar gewinnen können. Das zeigt, was in diesem Stadion möglich ist. Solche Spiele sind wie Festtage für den türkischen Fußball. Die Dortmunder können da nur den Stecker ziehen, wenn sie sehr dominant auftreten und vielleicht auch ein frühes Tor machen. Sollte das nicht der Fall sein und sich ein offenes Spiel ergeben, kann das schon eine sehr elektrisierende Atmosphäre werden.

Auf den Fernsehbildern von damals sieht man, dass die Mannschaft auf dem Weg in die Halbzeitpause von den Fans gefeiert wurde, trotz 0:3-Rückstand.
Andreas Beck: Die Besiktas-Fans sind eben etwas Besonderes. Die spüren ganz genau, wie so ein Verein lebt, wie die politischen Strömungen verlaufen und vor allem, was auf dem Platz passiert. Wie war das Spiel davor, wie sind die Spieler drauf, wieviel Einsatz bringen sie – dafür haben sie ein besonderes Gespür. Wir haben ein ordentliches Spiel auf Champions-League-Niveau gemacht. Aber der Gegner führt 3:0, weil er aus wenig ganz viel macht. Und das sind eben diese Momente, in denen die Fans zusammenstehen und der Mannschaft Rückhalt geben. Stell dir vor, die Leute fangen an zu pfeifen bei jeder Aktion. Das kam durchaus auch vor in meiner Zeit bei Besiktas, wenn es gar nicht lief, wenn man gegen eine kleinere Mannschaft in der Liga oder im Pokal schlecht spielte. Aber an diesem Abend war das anders. Das sind die großen Spiele. Und der ganze Verein lechzt nach genau diesen internationalen Spielen und danach, international mal wieder ein Ausrufezeichen zu setzen.

Internationale Spiele sind also noch einmal stimmungsvoller?
Andreas Beck: Ja, das ist wie ein Derby. Da geht es schon eine Woche vorher los, das elektrisiert die Stadt. Da wirst du im Restaurant und beim Einkaufen deutlich öfter drauf angesprochen. Nach der Auslosung freuen sich die Leute seit Monaten, dass Topstars wie Erling Haaland und Marco Reus in ihrem Stadion einlaufen.

Sie dürften in ihrer Zeit bei Besiktas zweimal die Meisterschaft feiern. Die Bilder davon sind spektakulär.
Andreas Beck: Das war absolut außergewöhnlich. Vor allem 2017, als wir die zweite Meisterschaft in Serie geholt haben, nachdem es zuvor sieben Jahre nicht geklappt hatte. Man hat uns nur gesagt, dass wir auf einem Boot auf dem Bosporus feiern und dass wir vom asiatischen zum europäischen Ufer fahren. Dabei denkt man sich zunächst nicht viel. Aber als es dann soweit war, wurde uns schnell klar: Wir erleben hier gerade Geschichte. Da waren 100 Boote auf dem Bosporus unterwegs, vollbesetzt mit Fans. Auf der Besiktas-Seite am Stadion wurden wir auch von Tausenden empfangen. Wir sind dann mit einem offenen Doppeldecker-Bus die letzten Meter durch riesige Menschenmassen zum Stadion gefahren, sind dort auf den Balkon und wurden noch weiter gefeiert. Das war schon phänomenal und ist ganz schwer in Worte zu fassen. Und das Verrückte war: Wir hatten dann noch unser letztes Liga-Heimspiel. Du stehst drei, vier Stunden auf deinen Beinen in der prallen Hitze, feierst und tanzt mit den Leuten, nimmst Erinnerungen mit, die sich für den Rest des Lebens einbrennen. Und dann musst du in die Kabine, dich umziehen und Fußball spielen. Wir haben dann sogar 4:0 gegen Osmanlispor gewonnen, eine ordentliche Mannschaft – das war eigentlich unvorstellbar. So ein Tag ist natürlich unvergessen.

Was erwarten Sie am Mittwoch?
Andreas Beck: Das wird ein sehr spannendes Spiel: Dortmund ist jetzt gut drin in der Liga, Besiktas ist an der Tabellenspitze, hat in vier Spielen noch kein Gegentor gefangen. Da treffen zwei Mannschaften mit gutem Selbstbewusstsein aufeinander. Dortmund ist natürlich der klare Favorit. Aber auswärts, in der Türkei, beim Double-Gewinner Besiktas – das ist nicht leicht, zumal da richtige gestandene, international erfahrene Spieler auf dem Platz stehen. Da bin ich schon gespannt, wie Dortmund mit seinen vielen jungen Spielern in die Partie kommt. So ein Spiel wird ja auch im Kopf gespielt. Dortmund hat seine einzige Niederlage in diesem Jahr in Freiburg erlebt. Da herrscht auch eine besondere Stimmung, das kann auch ein kleiner Hexenkessel sein. Deswegen bin ich gespannt, wie sie mit der Atmosphäre zurechtkommen – obwohl sie natürlich fußballerisch die größere Qualität haben.

Verfolgen Sie noch, was bei Besiktas passiert?
Andreas Beck: Wenn es möglich ist auf jeden Fall. Ich schaue die Spiele nur noch selten im Fernsehen, aber ich bekomme immer noch die Benachrichtigungen aufs Handy mit Ergebnissen, Tabelle, Aufstellung und Transfergeschehen.

Wie würden sie die aktuelle Mannschaft denn aus der Ferne einschätzen im Vergleich zu Bundesligamannschaften?
Andreas Beck: Anders in jedem Fall. In der Bundesliga ist der Altersdurchschnitt meistens deutlich niedriger, wenn man vielleicht Bayern München und ein paar andere Klubs ausnimmt. Besiktas hat im Vergleich eine sehr erfahrene Mannschaft. Da sind viele international anerkannte Spieler mit vielen Länderspielen, eine abgezockte Truppe also. Miralem Pjanic, Alex Texeira, Domagoj Vida und Michy Batshuayi – das sind ja schon bekannte Namen und alles gute Fußballer. Die Bundesliga ist natürlich dynamischer, die Intensität ist höher. Aber in der Champions League kann so eine erfahrene Mannschaft doch manchmal im Vorteil sein, die erst einmal abwartet, den Ball kontrolliert und auf ihren Moment lauert. Ich bin auch gespannt, wie Besiktas mit dem Druck zurechtkommt, gegen eine internationale Topmannschaft zu spielen, und was sie sich zutrauen. Ich würde mich freuen, wenn es ein sehr offenes Spiel wird.

Sie reden mit so viel Begeisterung über diese Zeit. Kommt da manchmal ein wenig Wehmut auf?
Andreas Beck: Nein, überhaupt nicht. Ich bin ja realistisch und sehe, wo ich mit meiner Karriere bin. Ich gehe auf die 35 zu. Die Zeit war phänomenal, aber irgendwann muss man auch so ein Kapitel beenden. Ich bin zu einem Top-Zeitpunkt mit dem erneuten Gewinn der Meisterschaft gegangen und habe dann meine Erfahrungen woanders sammeln dürfen: erst wieder in Deutschland und jetzt in Belgien. Ich bin sehr glücklich darüber, wie das alles gelaufen ist und gucke immer mit einem lachenden Herz auf die Zeit zurück. In der Türkei kann es auch vorkommen, dass man gute Jahre hat und dann den Abgang verpasst und die Leute einen rausschreien. Das hatte ich nicht, und auch deswegen denke ich so gerne daran zurück.

Und Eupen ist jetzt das totale Kontrastprogramm, oder?
Andreas Beck: Absolut. Das ist ja auch bewusst so ausgesucht. Ich hatte unglaublich emotionale Jahre in Istanbul und dann noch einmal in Stuttgart, was durch den Abstieg auch sehr intensiv war. Dann habe ich mi mit meiner Familie noch einmal ein ganz anderes Projekt ausgesucht, das vielleicht eher an meine Anfangstage in Hoffenheim erinnert. Klein, beschaulich, aber mit dem Ehrgeiz, etwas aufzubauen. Wir sind gut gestartet und im oberen Tabellendrittel, spielen in einer tollen Liga. Zwar in einem kleinen Klub, wo wir die Großen ärgern müssen – aber das gelingt momentan gut.

Vermissen Sie Istanbul?
Andreas Beck: Man muss das erlebt haben. Allein die Stadt, wo tagsüber 20 Millionen Menschen unterwegs sind. Wir haben mittendrin gelebt, im Etiler-Viertel im europäischen Teil, direkt an der ersten Brücke über den Bosporus. Da ist schon richtig etwas los, das war wunderschön. Aber mittlerweile habe ich drei Kinder, da bevorzugt man doch eher das ländliche Leben. Aber die Erfahrung Istanbul würde ich für kein Geld der Welt aus meinem Lebenslauf herausnehmen wollen.