Arnsberg. . Dario Scuderi stand beim BVB auf der Schwelle zum Profi-Fußball, als er sich schwer verletzte. An die Worte der Ärzte will er nicht glauben.
- Dario Scuderi stand beim BVB auf der Schwelle zum Profi-Fußball, als er sich schwer verletzte
- Acht Operationen hat er mittlerweile hinter sich
- An die Worte der Ärzte will Scuderi nicht glauben
Wenn Dario Scuderi morgens die Augen aufschlägt, ist die Hoffnung sofort wieder da. Dann richtet er sich auf, schaut an seinem linken Bein hinunter und versucht, die Fußspitze zu sich zu bewegen. Nur ein winziges kleines bisschen. Ein Zucken, ein Zittern, irgendwas.
Komm schon, verdammt! Keine Regung. „Ich merke da nichts“, sagt Scuderi, 18 Jahre alt, Fußball-Talent von Borussia Dortmund. Ob die Bettdecke auf seinem linken Fuß liegt oder vielleicht die Hand eines lieben Menschen, das spürt er nicht.
Der Tag, der alles ändert, tarnt sich als ein guter. Der Trainer der italienischen U19-Nationalmannschaft wird Dario auch für die nächsten Spiele wieder nominieren. Das schreibt er in einer E-Mail. Am Nachmittag steht aber ein anderes internationales Spiel an: Die A-Jugend des BVB tritt in der Champions League der Talente bei Legia Warschau an.
Genesungswünsche von Neymar, Iniesta, Pirlo und Co.
Ein paar Minuten sind erst gespielt, als der Mittelfeldspieler einen Konter unterbinden will. Er sprintet nach hinten, will einen Schuss im eigenen Strafraum blocken. Sein Stollen bleibt im Rasen hängen, der Wucht der Bewegung kann sein Knie nicht standhalten. Der Unterschenkel knickt nach innen ab, das Knie ist fürchterlich ausgerenkt. Seine Mitspieler schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Darios Augen sind weit aufgerissen. Er sieht alles, versteht nichts. Noch auf dem Platz muss das Knie wieder eingerenkt werden. Er weiß noch, dass er, auf der Trage abtransportiert, dachte, dass das Bein ja nun wieder gerade sei, dass er sicher operiert werden müsse, aber dass er bald wieder würde spielen können.
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Scuderi stand bei Borussia Dortmund auf der Schwelle zum Profi. Deutscher Meister mit der B-Jugend 2015, deutscher Meister mit der A-Jugend 2016, Einsätze in Testspielen bei den Profis von Thomas Tuchel. Nun könnte seine Karriere beendet sein, bevor sie begonnen hat. Die Ärzte rätseln, wie seine Chancen stehen. Er sagt: „Ich bin sicher, dass ich wieder auf dem Platz stehen werde.“ Als Profi meint er.
Die Bilder von Scuderis Schmerz gehen um die Fußball-Welt. Die BVB-Profis schicken ihm sofort ein Video, die Jugend-Mannschaften choreografieren seinen Namen auf den Rasen, darunter das Plakat „You’ll never walk alone“. Brasiliens Superstar Neymar sendet Genesungswünsche, der spanische Weltmeister Iniesta und Münchens Thiago Alcantara, die italienischen Legenden Andrea Pirlo, Francesco Totti, Paolo Maldini, Alessandro Costacurta, der Niederländer Frank Rijkaard ebenso. Zu wissen, dass die Augen seiner Idole auf ihn gerichtet sind, tröstet ihn, motiviert ihn.
Das Gefühl kehrt langsam zurück
Drei Monate ist der Unfall jetzt her. Scuderi sitzt im Restaurant seines Bruders in Arnsberg. Sorgsam frisiertes schwarzes Haar, lange Halskette, Ohrstecker. Die Krücken ist er schon los, eine Schiene trägt er noch ums linke Knie. Sie stabilisiert, was nicht von alleine hält. Kreuzbandriss vorne, Kreuzbandriss hinten, Außenbandriss. Dazu bildete sich ein Kompartmentsyndrom. Heißt: Die Durchblutung des Unterschenkels war gestört, schlimmstenfalls, so hieß es, drohte er abzusterben. Not-Operation. Muskeln mussten gespalten werden, um den Druck aus dem Gewebe zu nehmen. Sieben Eingriffe an sieben aufeinanderfolgenden Tagen. Zwei Tage Erholung, nächste OP in München, Nummer acht. Muskeln wieder zusammenflicken.
Aber die Nerven, die sind das Problem. Sie haben Schaden genommen, deshalb das Taubheitsgefühl im Fuß. Strecken kann er ihn, zu sich ziehen nicht. Dario erinnert sich an das Gespräch mit dem Neurologen. Wie auch nicht? Er sagt, dass Nerven regenerieren können. Langsam. Und so ist es. Millimeter für Millimeter kehrt das Gefühl vom Knie abwärts tatsächlich zurück. Dario spürt das. Millimeter des Glücks. Der Mediziner sagt auch, dass Fußball spielen wohl wieder möglich sein wird. Als Hobby im Park. Mehr nicht. Das ist der Tag, an dem Dario weint.
Fußball-Profi sein ist alles, was er will. Mit elf wechselt der gebürtige Hemeraner in die BVB-Jugend. Kurz danach ist er Balljunge bei einem Spiel der Profis. Die steilen Tribünen, der Lärm, das Gelb. Das ist es. „Es war und ist mein Traum, mal in diesem Stadion zu spielen.“ Traurigkeit steckt in seinem Blick, seine Stimme klingt nach Trotz. „Wenn Fußball wieder möglich ist, dann ist das doch meine Sache, auf welchem Niveau“, sagt er.
Gottes Plan?
Er muss sich selbst austricksen. Spiegeltherapie nennt sich das. Den gesunden rechten Fuß bewegt er, bei einem Blick in die Spiegel vor ihm sieht es aus, als wäre es der linke. Er muss ihn wieder spüren, diesen linken Fuß, ehe an die weiteren Operationen zu denken ist. Sechs Monate kann das dauern. Oder zwei Jahre. Das Fachabitur hatte er begonnen, aber noch vor dem Unfall abgebrochen. Klub-Boss Hans-Joachim Watzke, sagt Scuderi, habe ihn neulich zu einem BVB-Spiel eingeladen, habe ihn in den Arm genommen und ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen müsse, dass der BVB sich kümmere, wenn Scuderi etwas brauche. Und sei es irgendwann eine normale Arbeitsstelle. Die Ärzte halten das für ein realistisches Szenario. Dario nicht.
Natürlich stellt er sich Fragen, natürlich hadert er manchmal. Warum hat es ausgerechnet ihn getroffen? Warum nur dieser Ballverlust, der zum Konter führte? Warum war der Rasen so stumpf? Seine Antwort lautet, dass es wohl Gottes Plan war. „Vielleicht stärkt mich das alles. Jeder hat seine Geschichte.“ Er redet von Profis, die Profis seien, obwohl sich ihnen Hindernisse in den Weg stellten, die unüberwindlich schienen. „Manchmal“, sagt er, „manchmal muss man vielleicht leiden, um sein Ziel zu erreichen.“
Vielleicht.