Bad Ragaz. Borussia Dortmunds Coach Thomas Tuchel fühlt sich verantwortlich und macht deswegen im Trainingslager selbst das Aufstellen der Hütchen zur Chefsache.
Sechs, sieben, acht neun Schritte. Dann bleibt Thomas Tuchel abrupt stehen und schaut. Schaut, ob die Stange, die er nach neun in den Boden rammt in einer Flucht mit den anderen Stangen auf dem Trainingsplatz steht. Manchmal justiert er noch, verändert, prüft erneut, schaut, ob die Stange auch hält. Es ist als zelebriere er eines der scheinbar banalsten Dinge, die es im Fußball gibt: Hütchen aufstellen.
Später sitzt er im Hotel, das Borussia Dortmund im Trainingslager in Bad Ragaz als Mannschaftsquartier dient, auf einem Stuhl, der mit rotem Stoff bezogen ist. Von der Decke hängen Kronleuchter, die Wände sind mit Blattgold verziert. Vor ihm steht eine Limonadenflasche, auf deren Etikett das Wort „Heartbreaker“ gedruckt ist. Es ist als hätte jemand damit gerechnet, dass wie in den vielen Jahren zuvor Jürgen Klopp dort sitzt. Klopp, der Herzensbrecher und Entertainer. Doch da sitzt Thomas Tuchel, der Wissenschaftler, der leidenschaftliche Bessermacher.
Tuchel will "das Rad nicht überdrehen"
Eine halbe Stunde vor seiner Mannschaft ist der neue Trainer von Borussia Dortmund stets auf dem Platz. Klopp ließ die Übungen von seinem Co-Trainer vorbereiten, bei Tuchel ist das Chefsache. Die BVB-Stars tragen am Körper kleine Westen, mit denen Laufleistung, Laufwege und Beanspruchung aufgezeichnet werden. Zudem wird das Training per Video festgehalten, um den Spielern Fehlverhalten deutlicher aufzeigen zu können. „Sich selber spielen zu sehen, hat einen hohen Lerneffekt“, sagt Tuchel. Er weiß, dass schnelle Lerneffekte hilfreich wären. Die zerstückelte Vorbereitung erschwert das Hinarbeiten auf das erste Pflichtspiel schon nächste Woche und die nahende Bundesliga-Saison. „Wir verlangen gerade sehr viel - und zwar sehr schnell. Wir müssen aufpassen, dass wir das Rad nicht überdrehen“, sagt Tuchel.
Der Tagesablauf der Spieler hat sich geändert, die Ernährung hat Tuchel auch umgekrempelt. Woher das Gefühl kommt, für alles verantwortlich zu sein? Tuchel denkt nach. Dann sagt er mit einem Lächeln: „Ich bin der Trainer, ich bin für alles verantwortlich.“
Aus der Theorie wird Praxis
Er ist gerne früh am Platz, sagt er. Wenn aus der Theorie Praxis wird, dann sieht er erst, ob die Felder, wenn er sie abschreitet, vielleicht doch noch zu groß oder zu klein sind, um darin zu spielen. „Das ist für mich Gewohnheit, ich habe das immer schon so gemacht.“ Damals in Mainz, als er als unbekannter A-Jugend-Trainer plötzlich vor den Profis stand, kam ein Spieler nach dem Training zu ihm und raunte Tuchel - halb im Spaß, halb im Ernst - zu, dass er jetzt Bundesligatrainer sei und dass er nun nicht mehr mithelfen müsse, die Geräte von A nach B zu tragen. „Aber ich sehe keinen Grund, damit aufzuhören, nur weil ich jetzt bei Borussia Dortmund bin.“
Als die Sonne schon hoch am Himmel steht, erklärt Tuchel das erste Training des Tages für beendet. Er schickt die Spieler noch zu den Fans. Der Trainer geht derweil den Platz ab. Er sieht zwei Jungs, die er für die Söhne des Platzwartes hält. Sie versuchen mit Gartengeräten den von der Trainingsarbeit ramponierten Rasen zusammenzuflicken. Thomas Tuchel sagt, dass ihm das Herz blutet, wenn er Löcher im schönen Fußballgrün sieht. Deshalb geht er hin zu den Jungs und zeigt ihnen, wie sie das noch besser machen können.