Düsseldorf. Jetzt ist der WM-Triumph von Rio wirklich ruhmreiche Geschichte. Am Tag nach den letzten Feierlichkeiten in Düsseldorf musste Joachim Löw - wie so oft in den emotionalen Tagen von Brasilien - schon wieder als Personal-Manager ran.
"Ich brauche auf der einen oder anderen Position noch Alternativen", sagte der Bundestrainer und sondierte die begrenzten Möglichkeiten vor dem wichtigen Start in die EM-Qualifikation gegen Schottland.
Drei Leistungsträger sind zurückgetreten, sechs weitere Weltmeister plagen sich mit Verletzungen. Mit dem nachgeholten Neu-Schalker Sidney Sam füllte Löw den ausgedünnten Kader auf 19 Akteure auf. Die Berufung eines Offensivspielers zeigt, wo gegen die Schotten der größte Bedarf gesehen wird. In der brüchigen Defensive ruhen die Hoffnungen auf einer rechtzeitigen Gesundung von Jérôme Boateng für das Punktspiel am Sonntag (20.45 Uhr) in Dortmund.
Mit seiner jungen Verlegenheitself, die sich bei der Neuauflage des WM-Endspiels gegen eingespieltere Argentinier mit einem überragenden Angel Di María als zu unreif und uneffektiv erwies, übte Löw Nachsicht. "Es war schon schwierig. Viele haben gefehlt. Wir hatten nur zwei Tage Zeit", zählte der 54-jährige Freiburger auf.
Seine Spieler bewerteten die 2:4-Lektion vor mehr als zehn Millionen TV-Zuschauern gegen die auch ohne Lionel Messi starken Gauchos als "Warnschuss", wie Manuel Neuer sagte. "Es wird auf jeden Fall ein Wachrüttler sein, dass wir gegen Schottland in die Gänge kommen", ergänzte der Ersatzkapitän.
"Wir haben die Fehler des Gegners nicht ausgenutzt, sie haben es getan. Das hilft uns schon für Sonntag zu sehen, hey, die WM ist jetzt zu Ende, die Quali geht wieder bei Null los", sagte der glücklose Rückkehrer Mario Gomez. Der 29 Jahre alte Stürmer, der die WM verpasst und nach über einem Jahr wieder ein Länderspiel bestritten hatte, vergab drei Top-Möglichkeiten und wurde von einem Teil der 51 132 Zuschauer zum Sündenbock auserkoren.
Löw verurteilte dies als unfair. Denn die naive Abwehrarbeit der Dortmunder Auswahl-Azubis Erik Durm, Matthias Ginter und Kevin Großkreutz sowie die Zurückhaltung prominenterer Weltmeister hatten mindestens genauso zur harten Bauchlandung beigetragen. "Grundsätzlich geht es einfach nicht, dass ein Spieler der deutschen Nationalmannschaft ausgepfiffen wird, nur weil er die eine oder andere Chance liegengelassen hat", rüffelte Löw die pfeifenden Fans.
"Darauf dürfen wir nicht reagieren. Die Zuschauer sind Besseres gewöhnt von einem Weltmeister", bemerkte der Dortmunder Marco Reus. André Schürrle (52.) und WM-Finaltorschütze Mario Götze (78.) grenzten mit ihren Toren den Schaden ein, nachdem es durch Tore von Agüero, Erik Lamela, Federico Fernández und Di María schon bedrohlich 0:4 gestanden hatte.
"Ich weiß das als Trainer richtig gut einzuschätzen, dass er nicht in Topform sein kann", sagte Löw zu Gomez. Das trifft auch auf etliche andere Akteure zu. Für Löw ist die Situation "nicht so einfach". Nach den WM-Strapazen und der kurzen Saisonvorbereitung kann er im Training kaum Akzente setzten: "Da muss man aufpassen."
Julian Draxler musste früh mit einer Oberschenkelzerrung vom Platz. Der Schalker fehlt gegen die Schotten und wird durch seinen neuen Vereinskollegen Sam ersetzt, der zuletzt im November 2013 beim 1:0 in England das Nationaltrikot trug. Neben Mesut Özil (Knöchel) wird auch Innenverteidiger Mats Hummels sein Heimspiel verpassen, wie der DFB am Donnerstag endgültig bestätigte.
Der neue Kapitän Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Shkodran Mustafi stehen ohnehin nicht zur Verfügung. Und die bei einer internen Feier nach dem Spiel nochmals geehrten Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker hinterlassen eine nicht rasch zu schließende Lücke. Beim festlichen Abschied im Kreise des WM-Trosses wurde das Trio nach einem Emotionen weckenden Film über die Triumphtage in Brasilien endgültig in den Ruhestand als Nationalspieler verabschiedet. Löw gebührte am Festabend das letzte Wort: "Gemeinsam haben wir Momente für die Ewigkeit erlebt. Ihr seid großartige Spieler und ganz besondere Menschen. Natürlich werden wir euch vermissen. Ihr habt unglaublich viel für den deutschen Fußball geleistet und werdet unvergessen bleiben."
Um die Lücken zu schließen, "brauchen wir ein bisschen Geduld und Zeit", mahnte Löw. Man könne nicht erwarten, dass die Talente "die Etablierten so einfach ersetzen können. Unser Ziel heißt, sie in den nächsten zwei Jahren heranzuführen." 2016 in Frankreich ist das Finale das erklärte Ziel, möglichst gekrönt mit dem vierten EM-Titel.
Trotz der ersten Niederlage nach 18 ungeschlagenen Spielen ist Löw vor dem Qualifikations-Start nicht bange. "Ich mache mir keine Sorgen", sagte der Bundestrainer zum Schottland-Spiel. Er wird ein anderes Startteam mit den Münchnern Müller, Götze und wohl auch Boateng aufbieten können. Und die Schotten sind wahrlich nicht mit dem Weltranglisten-Zweiten zu vergleichen. "Argentinien liegt in Südamerika, nicht in Europa", bemerkte Torwart Neuer.
Löw muss aber die Defensive stabilisieren. "Wir haben hinten keine gute Organisation gehabt und schlecht verteidigt in den wichtigen Situationen", rügte Neuer. "Wir waren ineffizienter", benannte Toni Kroos das zweite große Manko. "Dass es in einem auf dem Platz gefühlt ausgeglichenen Spiel zwischendurch 0:4 steht, hat mich gewundert", sagte der neue Star von Real Madrid. Der Weltmeister beruhigte aber: "Niemand muss uns wachrütteln!"