Rio de Janeiro. Finalchance oder raus! Die knallharte Konstellation für Joachim Löw und seine WM-Spieler ist fast die einzige Gewissheit vor dem Viertelfinal-Hit Deutschland kontra Frankreich.
Ansonsten gibt es in Rio de Janeiro, wo am Freitag die beiden großen Nachbarn um den Einzug unter die besten Vier bei der WM in Brasilien streiten, ein großes Rätselraten im und um das deutsche Nationalteam. «Keiner weiß genau, wie die Aufstellung aussehen wird. Das wird erst wieder am Spieltag der Fall sein», sagte Offensivspieler André Schürrle zur Lage der Fußball-Nation, die sich von Löws auserwählten Spielern gern positiv überraschen lassen würde.
Für das deutsche Team ist es das bedeutendste Spiel seit dem bitteren Aus im Europameisterschafts-Halbfinale vor zwei Jahren in Warschau gegen Italien. Ist es für Löw vielleicht sogar das wichtigste Match in seiner Trainerkarriere, weil ein Misserfolg auch in seinem vierten Turnier den Titeltraum beenden würde? «Oh nein, um Gottes Willen. Da gab es schon Spiele, die genauso wichtig waren», reagierte Löw völlig überrascht auf diese Frage im ARD-Hörfunk. Mit möglichen Konstellationen für die Zeit nach Brasilien will sich der noch bis 2016 an den DFB gebundene Freiburger ohnehin nicht beschäftigen.
Der Chef des deutschen WM-Unternehmens, der schon in der Nacht zum Donnerstag mit dem über 60 Personen großen DFB-Tross das Teamquartier in Rio bezog, hält sich weitgehend bedeckt. Mit welcher Taktik? Mit welchem Personal? Mit Philipp Lahm wieder als Verteidiger? Mit einer zusätzlichen Offensivkraft? Löw lässt nur noch minimale Einblicke in das Innenleben der Nationalmannschaft zu. «Den Matchplan habe ich schon im Kopf. Ich weiß, es kann viel passieren. Wir tauschen uns ständig aus, diskutieren alle Möglichkeiten», erklärte Löw, ohne Einzelheiten zu verraten.
Wie Löw tickt und im Detail denkt, wissen oft nicht einmal mehr seine engsten Mitarbeiter. Bei langen, einsamen Strandläufen ordnete der 54-Jährige seine Gedanken und Ideen. «Hansi Flick und Andi Köpke sind meine Trainer, mit denen ich mich am Ende nochmals berate», sagte der Chefcoach vor seinem 110. Spiel als Bundestrainer.
«Ich bin völlig entspannt, gehe absolut selbstbewusst in dieses Spiel rein», erklärte Löw. Sein WM-Konzept wurde von den Fans in der Heimat und auch intern in der Sportlichen Leitung des DFB-Teams kontrovers diskutiert - und wird weiter kritisch verfolgt. Dass der Trainer nach dem Zittersieg im Achtelfinale gegen Algerien nun doch noch einmal die Rolle von Kapitän Lahm durchdenkt, könnte gegen die wiedererstarkten Franzosen zu einer größeren Personalrochade in der Startelf führen.
Lahm als Stabilisator und zugleich Offensivantreiber rechts in die Vierer-Abwehrkette zurück, Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger wie bei der WM 2010 in Südafrika gemeinsam in der Mittelfeldzentrale - einige Stimmen aus dem Trainerstab und der Mannschaft deuten auf diesen Sinneswandel bei Löw hin. Dazu Schürrle von Beginn an - zumindest eine denkbare Variante im Maracanã.
«Ich habe vor dem Turnier gesagt, Philipp spielt im Mittelfeld. Wenn es eine Situation gibt, wo man das ändern muss, dann wird das auch so gemacht. Das hab ich am Anfang mit ihm so besprochen», erklärte Löw zur heiß debattierten Lahm-Frage. «Gegen Algerien war es natürlich erforderlich. Was die Mannschaft braucht, wird gemacht», sagte der Bundestrainer. Gegen Algerien hatte Assistent Flick schon intensiv mit Löw diskutiert, bevor nach dem Ausfall von Shkodran Mustafi der Kapitän nach hinten versetzt wurde. «Natürlich ist nicht alles optimal gelaufen. Intern wird auch Tacheles geredet», sagte Köpke.
Einiges wird gegen Frankreich davon abhängen, ob die sieben erkälteten Spieler im 73 531 Zuschauer fassenden Fußball-Tempel eingesetzt werden können. Die Namen hält der DFB wie alle anderen Aufstellungsfragen als streng geheim zurück. Vor allem die zahlreichen Klimawechsel - in Rio werden am Freitag zum Anstoß um 13.00 Uhr Ortszeit (18.00 Uhr MESZ) über 30 Grad erwartet - haben den Kickern zugesetzt.
«Das wirkt sich so aus, dass man sich mal müde fühlt und sich eine Erkältung holen kann», bemerkte Teamarzt Tim Meyer. Zumindest im Fall des Dortmunders Mats Hummels, der wegen eines grippalen Infekts das Achtelfinale verpasst hatte, konnte Meyer Entwarnung geben: «Mats geht es deutlich besser. Ich rechne damit, dass er einsatzfähig ist.» Löws Selbstbewusstsein ist nach außen hin ungebrochen. «Ich weiß, dass unsere Mannschaft stark ist. Wir haben keine Angst», betonte der wichtigste Fußball-Lehrer des Landes nochmals vor dem Viertelfinale. Viele Fans in der 9000 Kilometer entfernten Heimat sind skeptischer, die ganz große WM-Euphorie wie 2006 und 2010 gibt es noch nicht. «Wir haben insgesamt als Team noch nicht ganz alles gezeigt. Ich hoffe, dass wir das noch hinkommen während des Turniers», bemerkte der Münchner Toni Kroos, der gegen die Franzosen weiter vorn als bisher agieren könnte.
Von seinen lange Zeit hervorgehobenen Idealen wie attraktives Spiel hat sich Löw in Brasilien erst einmal verabschiedet. Jetzt geht es um Kampf, Einsatz, Leidenschaft, Stabilität, Effizienz, um Tore und den Sieg. «Das Sieger-Gen ist wichtig. In jeder Runde wird jetzt alles abverlangt. Da muss man über die Grenzen gehen können, über sich hinauswachsen», betonte der Bundestrainer. «Frankreich ist ein enorm starker Gegner mit vielen Topleuten. Es wird sicher entscheidend sein: Wie ist der Wille gerade Richtung Spielende, wie kann man sich nochmal überwinden, wie stark will man den Sieg?»
Allein das wird aber nicht reichen, bemerkte WM-Torjäger Thomas Müller. «Wir müssen an einigen Schrauben drehen, um mal ein richtig gutes Spiel auf den Platz zu bringen», sagte der Münchner, der das aktuelle Team trotz aller Probleme weiter sieht als die Mannschaft von 2010 (3. Platz). «Wir sind viel besser als damals. Es wäre lächerlich, etwas anderes zu behaupten», unterstrich Müller. Den Beweis müssen er und die Mannschaft in Rio liefern.