Gelsenkirchen. Rüdiger Abramczik fühlte sich immer als Königsblauer. Aber zu Beginn der 80er-Jahre hatte er keine Wahl. Der Verein brauchte Geld und entschied sich für einen Verkauf. „Abi“ ging zu Borussia Dortmund – und wurde in seinen letzten Spielen für Schalke als Judas beschimpft.
Rüdiger Abramczik bestellt eine große Flasche Wasser, lehnt sich zurück und erzählt. Er muss nicht lange nachdenken und schon gar nicht nachschlagen, wenn es um seine Zeit als Profi geht. „Abi“, damals ein Rechtsaußen der Extraklasse, hat alles auf der internen Festplatte gespeichert. Auch die Zeit, in der sie ihm übel mitspielten auf Schalke. Ihm, dem Jungen aus der eigenen Jugend, der 1973 schon mit 17 in der Bundesliga debütierte und nicht einmal dicke Socken brauchte, um in die Fußstapfen des legendären Stan Libuda zu steigen.
1980 wankte Schalke, der Verein brauchte Geld. Obwohl der Vertrag des Leistungsträgers Abramczik auslief, ließ sich damals noch eine Ablösesumme einstreichen. „Erst hieß es, man wollte mich behalten“, erinnert sich der 57-Jährige. „Ich wollte sogar auf etwas Geld verzichten, aber drei Wochen vor dem Saisonende teilte mir Präsident Hans-Joachim Fenne dann mit, dass ich verkauft werden sollte.“
BVB zeigte Interesse
Er hörte sich um, ins Ausland wollte er nicht. Die meisten Klubs hatten längst ihre Saisonplanung abgeschlossen, Borussia Dortmund aber zeigte sich interessiert. „Der erste Gedanke an Dortmund war natürlich nicht so berauschend“, gibt „Abi“ zu. Aber dann traf er sich mit dem jungen BVB-Präsidenten Reinhard Rauball und war begeistert: „Dieser Mann hat auf Anhieb einen Supereindruck auf mich gemacht, und bis heute kann ich nur Gutes über ihn sagen.“
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Rüdiger Abramczik einigte sich mit dem BVB-Chef, doch dann grätschte der Zufall den flinken Flügelstürmer ab: Denn es kam noch ein Anruf aus München, Bayern-Manager Uli Hoeneß warf die Angel aus. „Für meine Karriere wäre es besser gewesen, wenn ich zu den Bayern gegangen wäre, denn dann wäre ich zweimal Meister geworden“, glaubt „Abi“. „Ich hatte zwar noch nicht unterschrieben, aber ich hatte Dr. Rauball mein Wort gegeben. Und es war mir wichtig, das zu halten.“ Er ging – von Blau-Weiß zu Schwarz-Gelb. Schalke kassierte 1,1 Millionen Mark Ablöse.
Dass er in Dortmund kritisch beäugt werden würde, war ihm klar. Den Abschied auf Schalke aber hatte er sich anders vorgestellt. Statt wie vereinbart den Transfer bis zum Saisonschluss unter Verschluss zu halten, wurde hinten herum erzählt, der Stürmer habe mehr verlangt, als Schalke hätte zahlen können. Das verletzte ihn tief, ein Teil des Stachels ließ sich nie entfernen. In den letzten Spielen für seinen Herzensklub wurde er als Judas beschimpft. „Die Leute haben nicht verstanden, warum ich zum BVB ging.“ Von dem durch ihren Klub angeschobenen Nottransfer wussten sie nichts.
Zwei Tore zum Dortmunder Sieg
Ohne Rüdiger Abramczik stieg Schalke ein Jahr später ab, 1981/82 hatte die Borussia dann eine bunte Mischung prominenter Revierfußballer beisammen: Die ehemaligen Schalker Abramczik, Rüssmann und Sobieray harmonierten mit den ehemaligen Bochumern Tenhagen und Eggeling, dem ehemaligen Essener Burgsmüller und eingefleischten Dortmundern wie Huber, Zorc und Immel.
Der BVB wurde Sechster, Schalke stieg wieder auf, und in seiner dritten BVB-Saison erlebte „Abi“ einen absurden Tag: Im mit 40.000 Zuschauern nicht einmal derbywürdig gefüllten Parkstadion schoss er beide Dortmunder Treffer zum 2:1-Sieg. „Ich musste meinen Job machen“, erklärt er. „Aber es wäre mir lieber gewesen, wenn ein anderer getroffen hätte. Das war schon komisch, den eigenen Verein abzuschießen.“ Als er am Abend seine Eltern besuchte, fragten die ihn, ob er nicht einfach mal hätte daneben ballern können...
„Ich war immer froh, wenn die Derbys vorbei waren“, sagt „Abi“. „Ich bin zwar ein Schalker Junge, aber ich habe mich in beiden Vereinen wohlgefühlt.“ Schalkes Fans zählen ihn längst wieder zur Familie: Sie wählten ihn in die Jahrhundertelf – „ein Ritterschlag“, sagt er.
Flanke zum Tor des Jahrhunderts
Seine internationale Karriere dagegen, die so verheißungsvoll begann, wurde früh gestoppt. 1977 debütierte „Abi“ glanzvoll beim 5:0 gegen Nordirland („Hätte ich an dem Tag Lotto gespielt, hätte ich sechs Richtige gehabt“), im selben Jahr servierte er seinem kongenialen Angriffspartner Klaus Fischer eine Traumflanke, die der Mittelstürmer per Fallrückzieher verwandelte: zum Tor des Jahrhunderts. „Es war spontan, und es war perfekt“, sagt Abi, der fortan als „Flankengott aus dem Kohlenpott“ gefeiert wurde. Klar, dass er auch an der WM 1978 in Argentinien teilnahm.
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Er war erst 23 Jahre jung, als er im Februar 1979 nach einem 0:0 auf Malta genau einmal zu viel sagte, was er dachte. DFB-Präsident Hermann Neuberger hielt ihm am Flughafen vor, „einen Mist“ gespielt zu haben, und „Abi“ konterte: „Das können Sie doch gar nicht beurteilen!“ Er nennt diesen folgenschweren Satz heute „eine Jugendsünde“, denn der mächtige DFB-Boss veranlasste umgehend die Ausbootung des Schalkers aus dem Eliteteam. „Heute wäre es undenkbar, dass so ein Befehl gegeben würde“, meint „Abi“ – Bundestrainer Jupp Derwall musste damals die Anordnung befolgen. Das Ende war demütigend: „Ich wurde noch einmal zur B-Nationalmannschaft eingeladen – und dort auf die Bank gesetzt.“
Während diese Wunde verheilt ist, schmerzt eine andere. Rüdiger Abramczik, ein ausgebildeter Fußballlehrer, fühlt sich in der Heimat als solcher nicht anerkannt. Er hat in der Türkei, in Österreich, in Bulgarien und in Lettland gearbeitet – „überall mit Erfolg“, betont er. „Deshalb verstehe ich es nicht, dass ich hier keine Chance bekomme.“
Eine Schalker U 23, meint er, könnte er auch trainieren, und überhaupt : „Deutscher Meister wird der FC Schalke ohnehin erst, wenn er von einem Schalker trainiert wird.“ Und augenzwinkernd fügt er hinzu: „Egal, von welchem...“