London. Das Champions-League-Finale zwischen dem BVB und Bayern München wird auch taktisch ein hochinteressantes Duell, beide Teams haben europaweit mit ihrer Spielweise für Aufsehen gesorgt. Wir verraten, was den BVB-Gegner Bayern so stark macht - und wie die Dortmunder reagieren könnten.
Vor gar nicht langer Zeit war die Herangehensweise gegen Bayern München einfacher: Wer gegen die Münchner spielte, musste in erster Linie die Flügelspieler aus dem Spiel nehmen, musste Ribery und Robben doppeln oder gar tripeln und dann hoffen, dass sich deren individuelle Klasse nicht trotzdem durchsetzte. Wenn dies gelang, waren die Münchner offensiv meist lahmgelegt. Und hinten waren sie immer wieder einmal für ein Gegentor gut.
Dass es inzwischen deutlich komplizierter geworden ist, zeigt die aktuelle Saison: Nur eine Niederlage haben die Münchner eingefahren, nur 18 Tore haben sie kassiert und selbst 98 geschossen. Selbst die Dortmunder, die die Bayern in den vergangenen beiden Spielzeiten bis zur Weißglut ärgerten, konnten die Münchner in dieser Spielzeit nicht bezwingen: Die beiden Bundesligaspiele endeten 1:1, im Pokal unterlag der BVB dem FCB 0:1.
Doch woran liegt es, dass die Bayern derzeit fast unschlagbar erscheinen, dass sie eine Mannschaft wie den FC Barcelona mal eben mit 4:0 und 3:0 aus dem Wettbewerb fegen konnten? In München hat man schlicht die richtigen Lehren aus den Demütigungen der Vorsaison gezogen, sowohl was Spieler, System und einige taktische Kniffe angeht. Im Folgenden fassen wir zusammen, was die Bayern so stark macht - und wie der BVB darauf reagieren könnte.
Die Neuzugänge
Es gab schon größere Namen, die die Bayern vor einer Saison an Land gezogen haben. Mario Mandzukic, Dante, Pizarro und Shaqiri galten als sinnvolle Ergänzungen, mehr nicht. Und um Javi Martinez hätte es wohl kaum großen Wirbel gegeben, hätte er nicht unfassbare 40 Millionen Euro gekostet. Heute aber muss man konstatieren: Der FCB hat klug wie lange nicht mehr eingekauft. Der Ex-Mönchengladbacher Dante hat sich längst als Abwehrchef etabliert, ist dank seiner Schnelligkeit, Ballsicherheit, Kopfball- und Zweikampfstärke gesetzt im Abwehrzentrum.
Martinez ist wegen seiner Spielintelligenz, Übersicht und Passsicherheit aus dem Mittelfeld kaum mehr wegzudenken. Mandzukic hat sich nicht nur wegen seiner Torquote zum Stammspieler gemausert, er überzeugt vor allem als vorderster Verteidiger der Münchner. Und auf der Bank sitzen dann noch Spieler wie Shaqiri, Gomez, Pizarro oder Rafinha - die starke Ersatzbank ist eine Lehre aus dem verlorenen Champions-League-Finale gegen Chelsea, als die Londoner Spieler der Güteklasse Malouda und Torres einwechseln konnten, die Münchner Ersatzbank dagegen unter anderem von van Buyten, Olic, Pranjic, Petersen und Usami besetzt war.
Spielsystem und Taktik
Am grundliegenden Spielsystem hat sich bei den Bayern seit den Tagen Louis van Gaals nichts geändert: Der FCB bestreitet seine Spiele mit einer 4-2-3-1-Aufstellung mit zwei inversen Außenspielern. Das heißt: Auf der rechten Seite agiert mit Robben ein Linksfuß, auf der linken Seite mit Ribery ein Rechtsfuß. Die Folge: Statt vor allem zur Grundlinie zu ziehen und Flanken zu schlagen, ziehen die Außenspieler nach innen um Überzahl zu erzeugen oder selbst den Abschluss mit dem starken Fuß zu suchen. Da sowohl Robben als auch Ribery enorm dribbelstark sind und sehr stark in Eins-gegen-eins-Situationen sind, ist das Bayern-Angriffsspiel darauf angelegt, genau solche Situationen zu kreieren.
Das gelingt vor allem durch schnelles, direktes Spiel nach vorne und intelligente Bewegungen der Mitspieler: Die Außenverteidiger rücken mit vor, hinterlaufen die Außenspieler und beschäftigen so die gegnerischen Außenverteidiger, Stürmer und zentrale Mittelfeldspieler rücken je nach Situation auf den Flügel, um kurze Pässe zu ermöglichen, oder orientieren sich zur anderen Seite, um Gegenspieler wegzuziehen.
Trotz aller Konstanz gab es aber auch einige Weiterentwicklungen am Bayern-System, die sich unter den Schlagworten Umschaltspiel und (Gegen-)Pressing zusammenfassen lassen. Während sich die Bayern unter van Gaal zuweilen am eigenen Ballbesitz berauschten und den Zug zum Tor vermissen ließen, sind sie unter Heynckes deutlich zielstrebiger geworden und suchen nach Ballgewinnen häufiger den schnellen, direkten Weg zum Tor - ohne dabei ihren dominanten, ballbesitz-orientierten Spielstil über Bord zu werfen.
Pressing und Gegenpressing
Der zweite große Fortschritt betrifft die Defensivarbeit: Trainer Jupp Heynckes ist es gelungen, seine Außenspieler Ribery und Robben zu permanenter Hilfe beim Verteidigen zu vergattern - wobei die gestiegene Konkurrenz eine gewichtige Rolle gespielt haben dürfte: Bis zur Verletzung von Toni Kroos saß etwa Robben nur auf der Ersatzbank. Heynckes hat seinen Spielern zudem ein konsequentes Pressing eingeimpft. Die Bayern stören ihre Gegner enorm früh, setzen schon die gegnerischen Abwehrspieler unter Druck und machen dem Gegner ein geordnetes Aufbauspiel beinahe unmöglich.
Und: Nach Ballverlusten lassen sich die Spieler nicht zwangsläufig zurückfallen, sondern attackieren sofort den Spieler in Ballbesitz und versuchen, den Ball zurückzuerobern - das sogenannte Gegenpressing. So kann der Gegner meist nur hektische Bälle nach vorne schlagen; oder er verliert den Ball an die aufgerückten Bayern, die sofort wieder in gefährlicher Position in Ballbesitz sind.
Dabei profitieren die Münchner enorm von der hohen individuellen Qualität im Kader. Mit Müller, Mandzukic, Schweinsteiger, Martinez oder Lahm hat man enorm spielintelligente und zugleich laufstarke Spieler in den eigenen Reihen, die für Pressing oder Gegenpressing bestens geeignet sind.
Das Bayern-Mittelfeld ergänzt sich optimal
Und hier zeigt sich auch, warum der Zukauf von Martinez die Bayern so stark verbessert hat: Der Spanier verfügt neben großer Aggressivität und Zweikampfstärke über eine überragende Spielübersicht und ein ausgezeichnetes Gespür für Lücken in der eigenen Defensive, die es zu stopfen gilt. Er kann also entweder aggressiv dem Ball nachjagen oder für andere Spieler absichern - genau wie Bastian Schweinsteiger, weshalb sich die beiden optimal ergänzen und je nach Situation entweder dem Ball nachjagen oder ihrem Mittelfeldpartner den Rücken freihalten können. Wie gut das funktioniert, zeigen diese Videos aus dem Hinspiel und dem Rückspiel des Halbfinales gegen den FC Barcelona. Damit ist die Bayern-Zentrale flexibler als das BVB-Gegenstück, wo mit Bender und Gündogan wohl zwei sehr unterschiedliche Spielertypen mit klarer Aufgabenverteilung auflaufen werden.
Es ist vor allem dieses Gespür für die Spielsituation, die Martinez deutlich wertvoller macht als Luiz Gustavo, der vor ihm die Position im defensiven Mittelfeld neben Schweinsteiger innehatte. Das zeigt sich etwa, wenn es um die Balleroberung geht: Martinez zerstört nicht einfach nur die gegnerischen Angriffe, meist gelingt es ihm, den Ball selbst unter Kontrolle zu bringen oder zu einem Teamkameraden zu spitzeln.
Auch Dante und Neuer sind wichtig für das Pressing
Da die Bayern mit Dante einen schnellen Innenverteidiger mit hervorragendem Stellungsspiel hinzubekommen haben, kann es sich die Viererkette erlauben, relativ hoch – also weit vom Tor entfernt – zu verteidigen und damit die Räume für den Gegner enger zu machen, was das Pressing erheblich vereinfacht. Hier spielt auch Torhüter Manuel Neuer eine wichtige Rolle, der mit seiner außergewöhnlich guten Antizipationsfähigkeit und für einen Torhüter ausgezeichneten Ballbehandlung als Libero hinter der Viererkette agieren und viele lange Bälle abfangen kann, die sonst tödlich für eine weit aufgerückte Abwehr wären.
Neuers zweite wichtige Fähigkeit für das Bayern-Spiel: Er kann – von gelegentlichen Wacklern abgesehen – Bälle auch unter großem Druck verarbeiten und entweder die eigenen Abwehrspieler anspielen oder lange Pässe auf die Offensivspieler schlagen. Das erhöht die Pressingresistenz der Münchner, also ihre Fähigkeit, auch bei gegnerischem Pressing ohne Ballverlust zu bleiben und das eigene Spiel sicher in die gegnerische Hälfte zu verlagern.
Auch hierbei ist Dante mit seiner Ballsicherheit ein enorm wichtiger Faktor, ebenso wie die Mittelfeldzentrale mit Schweinsteiger und Martinez, die sich nur äußerst selten einfache Ballverluste erlauben. Die Hauptrolle fällt hierbei Bastian Schweinsteiger zu, der den Rhythmus des Bayernspiels bestimmt: Mal beschleunigt er das Spiel, mal nimmt er das Tempo heraus, und immer wieder streut er seine enorm platzierten langen Diagonalbälle ein, um das Spiel zu verlagern und den Flügelspielern Platz zu verschaffen - gerade gegen die Dortmunder, die sehr aggressiv gegen den Ball arbeiten und dabei auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes viel Platz lassen, eine gfährliche Waffe.
Der BVB muss Schweinsteiger und Martinez neutralisieren
Will man die Bayern-Offensive lahmlegen, gilt es also vor allem, Schweinsteiger aus dem Spiel zu nehmen und ihn derart unter Druck zu setzen, dass er nur in ungefährlichen Spielsituationen an den Ball kommt und dann nicht die Zeit hat, präzise Pässe nach vorne zu spielen. Eine Blaupause dafür könnte das Halbfinal-Hinspiel des BVB gegen Real Madrid (4:1) sein, als es den Dortmundern hervorragend gelang, Xhabi Alonso aus dem Spiel zu nehmen, der bei den Königlichen eine ähnliche Rolle spielt wie Schweinsteiger in München. Insbesondere Mario Götze setzte Alonso ständig unter Druck und machte ihn so weitgehend wirkungslos - sein Ausfall ist auch für die Dortmunder Defensive ein schwerer Schlag und es wird spannend sein, zu sehen, wie sein Ausfall aufgefangen wird.
Zumal bei den Bayern auch Martinez parat stünde, der Schweinsteigers Aufgaben übernehmen könnte. Hier wäre es an Stürmer Robert Lewandowski, in der Defensivarbeit unterstützen und vermehrt Martinez unter Druck zu setzen, ohne dabei allerdings den gegnerischen Innenverteidigern im Spielaufbau allzu viel Zeit zu lassen – auf den polnischen Stürmer wartet also Schwerstarbeit. Und selbst wenn es gelänge, Schweinsteiger und Martinez zu neutralisieren, verfügen die Bayern auf den Außenbahnen über spielintelligente Akteure wie etwa Philipp Lahm, die die Offensive über die Flügel ankurbeln können – und eben über die dribbelstarken Ribery und Robben, die man nach wie vor doppeln muss, um zu verhindern, dass sie nach innen ziehen und abschließen. Der BVB steht also vor einer taktisch hochkomplexen Aufgabe.
Auch nicht einfach zu lösen ist die Frage, wer für Götze auflaufen soll: Im letzten Bundesligaspiel gegen 1899 Hoffenheim (1:2) war Kevin Großkreutz die Alternative, übernahm die linke Außenbahn und Marco Reus rückte auf die Position des Spielmachers - diese kann er zwar bekleiden, eine Idealbesetzung ist er allerdings nicht, da er mehr von seinem Tempo und seiner Dynamik lebt und im Götzes Wendigkeit und Kombinationssicherheit auf engstem Raum abgeht. Im Spiel zuvor gegen Wolfsburg (3:3) hatte es Klopp mit Nuri Sahin als defensivem Mittelfeldspieler neben Sven Bender und Ilkay Gündogan auf der Zehn versucht, was mehr schlecht als recht funktionierte. Und dann gäbe es noch die Möglichkeit, das System ein wenig umzustellen.
Das 4-5-1 als Alternative für den BVB?
So wie im Pokal-Viertelfinale gegen die Bayern, als es BVB-Trainer Jürgen Klopp mit einem Systemwechsel versuchte: Wie schon in der Champions-League-Gruppenphase gegen Manchester City stellte er sein Team in einer 4-5-1-Ordnung auf. Anders als im gewohnten 4-2-3-1, wo zwei defensive Mittelfeldspieler hinter einer offensiven Dreierreihe agieren, ordnet sich das Mittelfeld hier deutlich flacher an, man agiert zumindest bei gegnerischem Ballbesitz fast auf einer Linie. Der Vorteil dabei: Im Zentrum stehen drei eher defensiv orientierte Spieler, die den gegnerischen Außenspielern den Weg ins Zentrum versperren können; die eigenen Außenspieler können sich so breiter aufstellen und sich den aufrückenden Außenverteidigern des Gegners widmen.
Doch während das gegen Manchester - wo Blaszykowski einrückte - hervorragend funktionierte, ging der Plan gegen die Münchner - als Großkreutz halblinks spielte - nicht auf, selten bekam der BVB Zugriff auf den Gegner - was natürlich mit den Nachteilen der gewählten Formation zusammenhängt: Offensiv fehlen, wenn die Mittelfeldspieler auf einer Linie stehen, die Anspielstationen in der Tiefe, weshalb das schnelle Umschaltspiel hakt. Außerdem haben weder Balszczykowski noch Großkreutz ihre Stärken im Spielaufbau: Blaszczykowski braucht freie Räume, um seine Schnelligkeit auszuspielen, Großkreutz' großer Trumpf ist neben seiner Spielintelligenz seine Laufstärke, was ihn zumindest zu einem defensivstarken Akteur macht. Im Spielaufbai allerdings ist er keine große Hilfe.
Deswegen wäre es durchaus denkbar, dass stattdessen Nuri Sahin neben Bender und Gündogan aufläuft. Der Türke ist auch unter großem Pressing-Druck deutlich pass- und ballsicherer als Blaszczykowski und Großkreutz, neben Gündogan gäbe es dann einen zweiten Akteur, der das Spiel von hinten aufziehen kann. Allerdings präsentierte sich Sahin bislang zu schwankend in seinen Leistungen, außerdem ist Gündogan auf der zurückgezogenen Position deutlich wertvoller für das BVB-Spiel.
Bayerns Konter gegen Dortmunds Umstellungen
Doch nicht nur in der Offensive, auch in der Defensive hat das 4-5-1-System einen gravierenden Nachteil: Der Mittelstürmer ist im Pressing weitgehend auf sich allein gestellt und kann deswegen leicht umspielt werden. Der BVB wirkte dem zwar entgegen, indem die beiden defensiven Halbspieler immer wieder nach vorne herausrückten und das Mittelfeldduo Martinez/Schweinsteiger attackierten, doch die Bayern wussten dies zu kontern: Martinez rückte vor und drückte so seinen Gegenspieler Großkreutz zurück, gleichzeitig ließ sich Schweinsteiger weit nach hinten auf die linke Seite fallen, entzog sich so dem Zugriff des Dortmunder Mittelfelds und konnte seine gefürchteten Diagonalbälle ansetzen.
Der BVB gewann also defensive Stabiität, konnte aber seine größten Stärken, das aggressive (Gegen-)Pressing und das schnelle Umschaltspiel also nicht so wirksam wie sonst einsetzen. Ob Klopp es dennoch erneut mit diesem System versucht oder lieber beim gewohnten 4-2-3-1 bleibt, ist - neben der Frage nach dem Götze-Ersatz - die wohl spannendste taktische Frage im Vorfeld der Partie.