Essen. Vor dem letzten EM-Qualifikationsspiel gegen Belgien darf Joachim Löw schon an das EM-Aufgebot denken. Viele Gelegenheiten für personelle Experimente bekommt der Bundestrainer bis zum Turnierbeginn nicht mehr.
Noch sieben Monate hat der Bundestrainer Joachim Löw Zeit, ehe er in der Woche nach dem Ende der Bundesliga-Saison (5. Mai) sein Aufgebot für die Fußball-EM 2012 in Polen und der Ukraine benennt. Viel Zeit? Auf dem Kalender schon. Doch viele Chancen für personelle Experimente bekommt Löw nicht mehr. Nach dem heutigen Abschluss der EM-Qualifikation verbleiben dem Bundestrainer gerade einmal noch drei Spiele (11. November in der Ukraine, 15. November gegen die Niederlande in Hamburg und 29. Februar 2012 in Bremen gegen Frankreich), bevor er die 23 Kandidaten für den Angriff auf den EM-Titel benennen muss.
Nach den Erkenntnissen der glänzend gemeisterten Qualifikation dürften 17 Fahrer, ihre Gesundheit vorausgesetzt, bereits feststehen. Doch Überraschungen (wie David Odonkor 2006 oder Marko Marin 2010) sollten immer einkalkuliert werden. Ein Auswahlkriterium hat Löw dieser Tage benannt: „Ich habe seit 2008 bewusst auf junge Spieler gesetzt. Sie haben eine große Dynamik. Für mich kommen technische Qualität vor Routine und Erfahrung, weil der Fußball immer schneller wird. Und schnell spielen wollen die jungen Spieler immer gerne.“
Torwart: Manuel Neuer ist so unumstritten wie einst Oliver Kahn. Dahinter dürfte Tim Wiese seinen Platz als Nr. 2 sicher haben – allein schon, weil der vormalige Konkurrent René Adler erneut seit Monaten ausfällt. Inzwischen muss der 26-jährige Leverkusener, der bis zu seiner verletzungsbedingten Absage im Mai 2010 noch als vermeintlicher WM-Stammkeeper galt, sogar um sein EM-Ticket bangen. Löw könnte einen Kandidaten aus der mächtigen Garde junger Talente (Zieler, Trapp, ter Stegen, Leno) bevorzugen.
Hinten zwickt’s noch ...
Abwehr: Die vermeintlich größte Baustelle der DFB-Elf. Einzig Philipp Lahm ist – nach seiner Rochade nun als Linksverteidiger – gesetzt. Hinter dem Kapitän duellieren sich der Dortmunder Marcel Schmelzer und Dennis Aogo (HSV) um die Vertreter-Rolle. Dagegen hat Löw noch keine etatmäßige Innenverteidigung. Den Bundestrainer beunruhigt das weniger: „Wir hatten diese Diskussionen auch vor der WM 2006, der EM 2008 und der WM 2010. Bei den Turnieren selbst hatten wir dann aber keine Probleme.“ Bayern-Profi Holger Badstuber steht beim Bundestrainer hoch im Kurs – als Linksfüßer und wegen seiner Stärken bei der Spiel-Eröffnung. Als Partner konkurrieren vor allem Per Mertesacker (den Löw seit Jahren für seine Verlässlichkeit schätzt) und BVB-Profi Mats Hummels. Jerome Boateng, im Klub zumeist als Innenverteidiger tätig, dürfte derzeit Vorteile auf der vakanten Position des Rechtsverteidigers haben. Der Schalker Benedikt Höwedes ist innen wie rechts außen eine Alternative. Mehr derzeit aber nicht. Als weitere Option für rechts hinten gilt der Neu-Wolfsburger Christian Träsch.
... vorne passt’s schon
Mittelfeld: Seit den Zeiten der Netzers und Overaths hat sich eine DFB-Elf nicht mehr einer derartigen Fülle von Kreativspielern erfreut. Mesut Özil und Thomas Müller sind gesetzt, zudem drängt Mario Götze nach. Um den Platz auf der linken Außenbahn balgen sich Lukas Podolski und André Schürrle, mit Abstand folgt die Konkurrenz um Kevin Großkreutz (BVB). Für die rechte Seite gibt es hinter Müller keinen natürlichen Herausforderer. Löw könnte nun die Tempodribbler Marco Reus oder Sidney Sam präferieren.
In der defensiveren Rolle ist Bastian Schweinsteiger der unumschränkte Dominator. Als sichere EM-Fahrer gelten zudem WM-Partner Sami Khedira und Toni Kroos, den Löw wegen seiner Fähigkeit als etwas offensiverer „Zwischenspieler“ außerordentlich schätzt. Bliebe womöglich noch ein Mittelfeld-Platz im EM-Flieger – und zahlreiche Anwärter: die Bender-Zwillinge Sven (BVB) und Lars (Leverkusen), Simon Rolfes (Leverkusen) oder Ilkay Gündogan (BVB). Doch auch die Schalker Julian Draxler oder Lewis Holtby sind denkbare Alternativen. Sicher ist nur eins: Michael Ballack wird nicht zum Kader gehören.
Angriff: Die Wahl fällt nicht ganz leicht: Mario Gomez oder Miroslav Klose? Der Bundesliga-Torschützenkönig oder der zweiterfolgreichste Stürmer der DFB-Geschichte? Es ist wie beim Highlander: Es kann nur einen geben. Zwar hat Löw zuletzt angekündigt, auch ein klassisches 4-4-2-System ausprobieren zu wollen, um eine weitere Variante zu haben – zur gängigen Spielformation aber wird es nicht werden. Und hinter Klose und Gomez tut sich ohnehin ein Loch in der Tiefe des Mariannengrabens auf. Vormalige Kandidaten wie Stefan Kießling oder Patrick Helmes sind darin versunken, als erste Alternative gilt derzeit Cacau.
Das Fazit: Die Auswahl der EM-Fahrer 2012 werde Löws „schwerste Nominierung“, meinte BVB-Trainer Jürgen Klopp. Wir meinen: Es ist Löws schönste Nominierung. Denn so viel Qualität war selten. Es gibt weit schlimmere Aufgaben.