Im Ruhrgebiet. .

Der Metzger macht WM-Wurst. Die Friseurin an der Ecke kämmt im Trikot. Angelina Jolie wird ignoriert. Und das Bermuda-Dreieck kapituliert. Szenen einer Niederlage

Der Tag erwacht in Schwarz-Rot-Gold, optimistische Farben sind das am Morgen noch, strahlend. Die Friseurin an der Ecke kämmt im Trikot. Die Bäckerin ist komplett dekoriert, ihr Backwerk auch: Den Amerikanern hat sie Zuckerpüppchen in kurzen Hosen in den Guss gedrückt, auf die Apfelschnitten schrieb sie ein dreifaches „Olé“; die Konkurrenz schob versunkenen „Schland“-Kuchen in den Ofen. Selbst Unterwäsche wird auf Fußballrasen dekoriert und in der Apotheke in Deutschlandfarben die Medizin. Der Metzger verkauft „WM-Wurst“. Er hat das bestimmt nur gut gemeint.

Eine Frau trägt eine Fahne zum Auto, wer jetzt noch nicht geflaggt hat, tut es spätestens an diesem Tag und mindestens einmal. In einer Essener Boutique tragen sie einen winzigen Fernseher aus dem Keller an die Kasse, grau vor Staub: „Die Europameisterschaft“, seufzt die Verkäuferin, „ist zwei Jahre her.“ Um die Ecke biegt ein Mofa: schwarz-rot-gold.

WM-Urlaub und Krankenschein

Nicht einmal Mittag, da glühen die Fans an den Trinkhallen vor. Der Wind bläst kalt; gut, dass Fahnen wärmen. Der Chef der „Elf-Freunde-Arena” hat nur 35 Minuten von Köln nach Essen gebraucht; so schnell war er nie, nicht mal in den Ferien. „Wer eben kann, hat heute frei“, sagen sie an der Halle, drinnen werden die ersten Fünf-Liter-Fässchen angeschlagen. Alexander hat „extra drei Wochen WM-Urlaub genommen“, sein Kumpel hat ‘nen Krankenschein. Ein Verlag hat sich komplett in die Arena verlegt, „Betriebsveranstaltung“, heißt es etwas verschämt. „Is’ ja Deutschland“, erklärt Alexander. Die Musik spielt: „Fußball ist unser Leben.“ Und danach, Salut an die Franzosen, „Mexico mi amor“. Da spotten sie noch.

Kurz nach eins rennen die Fans zu den Fernsehern, Mengen sind es, die bis jetzt in der Schule waren oder im Büro; einige tragen noch Anzug unterm Schal. In Gelsenkirchens Arena singt Peter Wackel, ein Fan tippt 5:1, „und das eine ist auch nur ein Höflichkeitstor“. Trompeten Willy bläst zur ersten Attacke. Seit auch Fans Fußball gucken, die keine sind, ist jedes Spiel eine Party, doch diesmal ist sie schnell vorbei. „Pass auf“, unkt Horst aus Hochlarmark (Recklinghausen), der 30 Jahre auf Zeche malochte: „Wer 1:0 führt, der stets verliert.“ Nach dem verschossenen Elfmeter nimmt auch der letzte Vater sein Kind von den Schultern und stellt es auf dem Boden der Tatsachen ab.

200 Bildschirme, ein Programm

Martin Kostrzewa hat jetzt den einzig richtigen Arbeitsplatz: Der Mann ist „Fachberater Fernsehen“ bei Saturn – und dort gab es noch nicht einmal eine Diskussion, ob sie am Arbeitsplatz Fußball gucken dürfen! Doch kundenseitig ist die Abteilung nahezu ausgestorben, nur eine Handvoll Zaungäste hat sich eingefunden. Sie sitzen vor 200 Bildschirmen, und auf allen läuft Deutschland. Naja, auf einem auch Angelina Jolie; Angelina Jolie ist ja lange nicht mehr so ignoriert worden.

Es gibt keine fußballfreie Zone mehr im Bermuda-Dreieck in Bochum, auch die letzten Kneipen haben kapituliert, die sich bisher verwahrten. Ooh, da ist eine Ausnahme! Im „Mandragora“, sozusagen ein Gründungsmitglied des Kneipenviertels, ist kein einziges Fernsehgerät. Freilich auch kein Gast (aber man muss dazusagen: Die mutige Freiheit von Fußball wird dadurch relativiert, dass der Platz vor der Kneipe voller Fernseher steht, und der Platz gehört zum Betrieb). Drinnen jedenfalls hat es Kellnerin Nadine mit zwei Stunden überschaubarem Arbeitsaufwand zu tun. Voll war es eigentlich zur Halbzeit; siehe auch: Pinkelpause.

In der „Elf-Freunde-Arena“ singt der DJ „Auf geht’s Deutschland, schieß ein Tor“, aber er singt allein, und geschossen wird auch nicht. Am Bierstand rutscht einem Fan die Fahne. „Guck mal, die geht auch schon unter.“ Sie müssten noch treffen, meint er, schon, „damit gleich was los ist auf der Straße“. Dann sagt das Ruhrgebiet aus dem Mund eines Mannes in Bochum: „Scheiße! Mann!“ Und der Korso schrumpft zum Torso: Ein Auto kreist und hupt allein. Es trägt die serbische Flagge. Und wir begreifen, warum der Apotheker am Morgen diese besondere Deko gewählt hatte: Er wickelte sein Schwarz-Rot-Gold um – ein Schmerzmittel.