Hartford. Dieser Start weckt neue Sommermärchen-Fantasien. Das erste Nagelsmann-Spiel fördert mehr zutage als einen Einstandssieg gegen die USA. Eine Idee und ein Gerüst sind erkennbar.
Eine großherzige Belohnung für das Sieg-Geschenk seiner Mannschaft zum Bundestrainer-Einstand kam Julian Nagelsmann nicht in den Sinn. Nach dem kurzen abendlichen Flug von Hartford nach Philadelphia gab es keinen freien Sonntag für die Fußball-Nationalspieler. Vielmehr setzte der neue Chef nach dem Sommermärchen-Fantasien weckenden 3:1 (1:1) gegen ein junges, ambitioniertes US-Team eine intensive Nachbereitung des Leistungstests im stimmungsvollen Pratt & Whitney Stadium an.
„Einen halben Tag frei gebe ich ihnen nicht. Vielleicht mal ein Stündchen“, sagte der 36 Jahre alte Nagelsmann mit väterlicher Strenge. „Wir sind jetzt auch nicht zum La-Paloma-Pfeifen da. Jetzt haben wir ein Spiel gewonnen. Und es wäre ganz gut, wenn wir auch noch das zweite gewinnen“, sagte er mit Blick auf die am Dienstagabend (Ortszeit) anstehende Kraftprobe mit den Mexikanern. Scherzhaft fügte Nagelsmann hinzu: „Vielleicht geben die Club-Trainer ja dann zwei Tage frei.“ Keine Frage: Dieser Mann will mehr, viel mehr.
Der Anfang stimmte nicht nur ihn im Hinblick auf das Heimturnier in acht Monaten hoffnungsfroh, sondern sicherlich auch die zuletzt viel zu oft enttäuschten Fans in der 6000 Kilometer entfernten Heimat. Und auch die DFB-Entscheider, die sich nach der überfälligen Trennung von Hansi Flick für das zunächst zeitlich begrenzte EM-Projekt mit dem beim FC Bayern München nicht mehr gewollten Nagelsmann entschieden hatten.
Völler sehr zufrieden
„Das war ein richtig guter Beginn und macht Lust auf mehr“, sagte Sportdirektor Rudi Völler, der als Interimschef im September das befreiende 2:1 gegen Frankreich verantwortet hatte. Er hatte Nagelsmann schon vor dessen Debüt als „Glücksfall“ bezeichnet. Nun befand der auf die Tribüne zurückgekehrte Völler: „Es gab schon ein paar gute Ansätze. Das war eine gute Woche und eine gute Stimmung.“
Abgeschlossen wurde sie vor 37 743 Zuschauern mit drei Toren von Kapitän Ilkay Gündogan, Torjäger Niclas Füllkrug und Jungstar Jamal Musiala nach dem Rückstand durch Christian Pulisic in einer noch offenen ersten Hälfte. „Wir haben verdient gewonnen. Wir waren fußballerisch sehr gut. Am meisten gefallen hat mir aber, dass wir ruhig geblieben sind nach dem 0:1, nicht hektisch geworden sind, nicht zusammengebrochen sind“, kommentierte Nagelsmann. Es war ein Spiel mit etlichen Gewinnern, vom herausragenden Gündogan über Torgarant Füllkrug (acht Treffer in zehn Länderspielen) bis hin zum Ruhe ausstrahlenden Rückkehrer Mats Hummels und dem als Ersatz für Joshua Kimmich auftrumpfenden Pascal Groß. Kimmich reiste wegen eines grippalen Infektes vorzeitig zurück nach München.
Der größte Gewinner aber war Nagelsmann. Trotz schwieriger Rahmenbedingungen wie langer Anreise und Zeitunterschied gelang es ihm mit nur vier Trainingstagen, dem Team eine neue Spielidee im 4-2-2-2-System mit Ball und einem 4-2-3-1 gegen den Ball zu vermitteln. Die raschen Lerneffekte waren erstaunlich, die im Schnitt knapp 29 Jahre alte Startelf mit den Youngstern Florian Wirtz und Musiala spielte wie erhofft ihre große Erfahrung mit zunehmender Spielzeit aus. Nagelsmann machte die im Kader steckende Qualität wieder sichtbar, nachdem die Qualität zuletzt oftmals hinterfragt worden war.
Auch Lob von den Profis
Die Spieler nehmen Nagelsmann an. „Wir registrieren, dass da jemand vor uns steht, der ein autoritäres, gutes Auftreten hat. Auch in den Besprechungen merkt man es. Es ist eine natürliche Autorität, keine künstliche. Er kann alles hinterlegen mit Erklärungen, mit Lösungen. Das schindet sofort Eindruck, wenn du als Spieler merkst, das klappt“, sagte BVB-Stürmer Füllkrug (30). „Es war eine Art und Weise von Fußball, die etwas anders ist. In der Kürze der Zeit haben wir echt viele gute Sachen gemacht“, meinte Gündogan (32).
„Die Dinge ziehen, die wir angehen. Die Ideen des Trainers haben Kraft und bringen uns aufs nächste Level“, sagte Füllkrug geradezu hymnisch. „Er ist ein Trainer, der sehr viele Ideen hat, der sehr ambitioniert ist.“ Füllkrugs Worte bestätigte der Gelobte prompt. „Mir ist schon wichtig, dass wir eine gewisse Ästhetik im Spiel haben“, sagte Nagelsmann und fügte pathetisch hinzu: „Es ist für mich schon die Basis, dass die Jungs Spaß haben an ihrem Job, auch bei der Nationalmannschaft. Das ist nochmal mehr Passion und Leidenschaft als im Club.“
Gerüst zeichnet sich ab
Seine Turnierelf für den Sommer 2024 hat Nagelsmann natürlich nicht auf Anhieb gefunden, auch wenn etliche Starter punkten konnten. Das Kernteam ist für den Coach eh umfassender angelegt. „Irgendwann beginnen wir, eine erste 15 einzuspielen. Es wird keine erste Elf sein, weil wir bei der EM mehr als elf Spieler brauchen.“ Aber es zeichnet sich nach nur einem Spiel ein Gerüst vor Torwart Marc-André ter Stegen ab. Hummels und Antonio Rüdiger bilden das Abwehrzentrum. Im Mittelfeld ist der leise Töne bevorzugende Kapitän Gündogan ein „Anführer als Fußballer“, wie Nagelsmann sagte. Er glaubt an ihn: „Ilkay spielt seit Jahren auf einem top, top Niveau. Warum soll das in der Nationalmannschaft nicht so sein?“
Zurücklehnen darf sich aber kein Gündogan, kein Füllkrug, kein Hummels. Es sei „nicht alles brillant“ gewesen, sagte Nagelsmann in die Freude des Auftaktsieges auf dem USA-Trip. „Das ist aber auch gut, da habe ich noch was zu tun.“ Und so richtete er den Fokus am Sonntag sofort auf das Mexiko-Spiel, bei dem jetzt womöglich in der deutschen Nacht zum Mittwoch (2.00 Uhr/ARD) ein paar Zuschauer mehr vor dem Fernseher sitzen werden. Gegen Mexiko, das in der Weltrangliste als Zwölfter ebenfalls vor dem DFB-Team (15.) steht, will Nagelsmann einige personelle Änderungen vornehmen, weil er „nahezu alle Spieler“ im 25-Mann-Kader auch mal im Spiel sehen will.