Essen. Bundesliga-Schiedsrichter Felix Brych spricht im Interview über überschrittene Grenzen sowie Licht und Schatten in seinem Job.

Leicht ist ihre Aufgabe nie – aber vor allem zum Saisonfinale, wenn es im Kampf um den Titel und gegen den Abstieg richtig eng wird, gehen die Emotionen hoch und es stehen vor allem die Schiedsrichter im Fokus. Einer, der auf den Plätzen in Deutschland und der Welt fast alles erlebt hat, ist Felix Brych. Der 47-Jährige hat im Herbst seiner Laufbahn ein Buch über seine Karriere geschrieben und spricht im Interview über fatale Fehler und die Faszination seines Berufs.

Herr Brych, vor kurzem wurde bei einem Spiel von Rot-Weiss Essen in Zwickau der Schiedsrichter mit Bier begossen. Das Spiel ist dann abgebrochen worden - und dazu hat es eine kontroverse Diskussion gegeben. Finden Sie das richtig, dass darüber überhaupt debattiert wurde?

Felix Brych: Nein, denn einem Schiedsrichter Bier ins Gesicht zu schütten, ist abscheulich, das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen. Deshalb gab es zum Abbruch keine Alternative.

Schiedsrichter Nicolas Winter (M) war von einem Zuschauer Bier ins Gesicht geschüttet worden.
Schiedsrichter Nicolas Winter (M) war von einem Zuschauer Bier ins Gesicht geschüttet worden. © Gabor Krieg/PICTURE POINT/dpa

Der Täter hat öffentlich geäußert, dass erstens der Schiedsrichter „Grütze gepfiffen“ habe und zweitens es doch „nur Bier“ gewesen sei. Der Schiedsrichter solle sich deshalb nicht so anstellen. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie so etwas hören?

Wir Schiedsrichter begeben uns in jedem Spiel in ein Spannungsfeld. Wir wissen, dass wir entscheiden müssen und damit auch automatisch gegen jemanden entscheiden. Mit Unmut müssen wir also zurechtkommen. Das ist klar. Aber es gibt auch eine Grenze, und die wurde in diesem Fall deutlich überschritten.

Sie haben sich zuletzt auch zu den Anfeindungen, denen Sascha Stegemann nach dem Spiel des BVB in Bochum ausgesetzt war, geäußert. Es gibt keine zwei Meinungen, dass Drohungen gegen den Schiedsrichter und dessen Familie inakzeptabel sind. Aber können Sie sagen, warum die Reaktionen auf tatsächliche oder vermeintliche Fehler von Schiedsrichtern immer so heftig ausfallen?

Ich kann nur sagen, dass das in meiner Anfangszeit anders war. Die Ausschläge werden immer größer. Mit Kritik müssen wir umgehen können. Warum das aber immer heftiger wird, kann ich auch nicht erklären.

Ist der Fußball vielleicht zu groß geworden, sodass er sich von den gesellschaftlichen Normen und Werten entkoppelt hat?

Schwer zu sagen. Ich habe in meinem Buch geschrieben, dass ich das Gefühl habe, dass vieles oft immer gleich skandalisiert wird. Der Fußball hat mittlerweile eine enorme Wichtigkeit erlangt. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist die Bedeutung des Fußballs toll. Davon leben wir, auch ich, und diese Bedeutung genießen wir irgendwo auch. Andererseits scheint dadurch eine gewisse Hysterie nicht mehr zu verhindern zu sein.

Sie haben diesen Wandel in Ihrem Buch „Aus kurzer Distanz“ angesprochen und dabei auch die Medien kritisiert. Jeder Transfer ist gleich ein Hammer-Transfer, jeder Fehler wird zum Skandal. Es hagelt in den Überschriften Superlative. Das ist vermutlich eine Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist, weil das Geschäft eben immer größer wird. Lässt das Ihre Liebe zum Fußball erkalten?

Nein, ich habe die Medien nicht kritisiert, sondern nur meine Beobachtungen aus über 20 Jahren geschildert. Meiner Liebe zum Sport, speziell dem Fußball, tut das keinen Abbruch. Unter diesem Aspekt habe ich ja auch das Buch geschrieben, es soll ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs aus meiner Sicht als Schiedsrichter sein. Es geht eben um viel mehr Geld als in meiner Anfangszeit. Und ja, das lässt sich nicht bestreiten, die Wortwahl im Fußball ist durchaus dramatischer geworden. Das haben Sie richtig beschrieben. Es berichten viel mehr Medien als früher, Fußball ist immer irgendwo Thema und erzeugt eine gewisse Aufregung, die wiederum gut ist für den Sport. Aber natürlich kann die Stimmung schnell ins Gegenteil umschlagen, wie wir zuletzt leider gesehen haben.

Schiedsrichter Sascha Stegemann (M.) war nach seiner Fehlentscheidung bedroht worden.
Schiedsrichter Sascha Stegemann (M.) war nach seiner Fehlentscheidung bedroht worden. © Federico Gambarini/dpa

Sie haben an einer Stelle geschrieben, dass Sie sich ein dickes Fell zulegen mussten. Wie hat Sie das menschlich verändert? Vielleicht sogar Ihren Blick auf die Welt?

Zunächst einmal hatte ich über zwei Jahrzehnte eine wunderschöne Zeit. Das kommt mir oft zu kurz und das möchte ich immer voranstellen. Und wenn wir über die negativen Aspekte reden, muss ich sagen, dass ich von ihnen sogar manchmal profitiert habe, weil ich dadurch viel erlebt und gelernt habe. Ein dickes Fell musste ich mir dennoch zulegen, auch Mechanismen entwickeln, um die negativen Dinge nicht so sehr an mich heranzulassen. Ich als Schiedsrichter wurde immer wieder kritisiert, aber ich musste gleichzeitig den Menschen in mir schützen. Ich tat das, indem ich beispielsweise wenig von mir preisgab, um keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten.

Sie sagen das so. Aber wie geht das? Wie legt man sich ein dickes Fell zu? Die Belastung, die Angriffe, die nimmt man doch immer mit, oder?

Also im Privatleben versuche ich, den Fußball auszublenden. Ich beschäftige mich bewusst mit anderen Themen, weil das den Kopf ein bisschen frei macht. Natürlich hat jeder Mensch ein gewisses Maß an Sensibilität, und das habe ich auch, aber dieses Maß kann man ja verändern. Ich habe zum Beispiel mit Psychologen daran gearbeitet, dass ich nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage lege. Ich habe zunächst gelernt, nichts mehr über mich zu lesen. Später habe ich mir angeeignet, etwas zu lesen, ohne es zu wichtig zu nehmen. Ich habe meine Familie und meinen festen Freundeskreis, wo ich mich sicher und aufgehoben fühle. Das war immer wichtig für mich, dieses soziale Umfeld. Allerdings habe ich dieses Umfeld im Laufe der Jahre nicht mehr erweitert, weil ich nicht mehr jedem neuen Menschen partout in meinem Leben vertrauen konnte. Das ist ein bisschen schade, weil ich mich gerne mit Leuten umgebe, gerne auf Menschen zugehe und eigentlich offen und gesellig bin. Aber das lässt sich mit meinem Beruf nicht wirklich vereinbaren.

Felix Brych erklärt Cristiano Ronaldo eine Entscheidung.
Felix Brych erklärt Cristiano Ronaldo eine Entscheidung. © dpa

In Ihrem Buch steigen Sie mit der misslungenen WM 2018 ein. Wir haben viel über Probleme gesprochen. Gibt es auch positive Aspekte?

Selbstverständlich, sehr viele sogar. Die wenigen nicht ganz so schönen Aspekte meines Berufs müssen immer ins Verhältnis zu meinen 800 Profispielen gesetzt werden. Daran lässt sich erkennen, dass fast alle Spiele für mich positive Erlebnisse waren, jedes gute Spiel ist wie eine kleine Party. Diese Erfahrung kann man sich nicht kaufen, ebenso wenig wie bei ganz großen Spielen dabei gewesen zu sein. Es gibt viele Menschen, die bezahlen sehr viel Geld, um bei solchen Matches auf der Tribüne zu sitzen – und ich stand auf dem Platz.

Warum ist es also faszinierend, Schiedsrichter zu sein?

Es ist interessant, mit Menschen aus aller Welt zu arbeiten und zu kommunizieren, auf dem Platz zu entscheiden und für Gerechtigkeit zu sorgen. Außerdem durfte ich alle Kontinente bereisen. Anfangs bin ich durch Bayern gefahren, später durch Deutschland und Europa, dann um die ganze Welt. In alle möglichen Stadien einzulaufen, die dortige Stimmung aufzusaugen und die jeweiligen Spiele reibungslos zu pfeifen, sind für mich Momente des puren Glücks.

Dennoch stehen Sie meist nur im Mittelpunkt, wenn es schief läuft.

Damit kann ich leben. Ich habe mir diesen Job ganz bewusst ausgesucht. Wenn es mir darum ginge, vor allem populär und beliebt zu sein, wäre ich eher Schauspieler oder Comedian geworden.