Essen. Erinnerungen an Kevin Keegan, einen außergewöhnlichen Fußballer beim HSV, der am Sonntag, 70 Jahre alte wird. Eine Kolumne.
1977, als der RAF-Terror die Bundesrepublik mit Attentaten und der Entführung der Landshut erschütterte, entwickelte ein elf Jahre alter Junge nicht nur ein erstes zartes Pflänzchen politischen Bewusstseins; er sah sich zugleich ästhetisch verstörenden Alternativen ausgesetzt: Die Samt-Jacketts der Disco-Ära, Latzhosen und Strickpullis der Friedensbewegung oder Irokesenschnitt und zerfetzte Lederjacken des Punk zeigten auch äußerlich die Zerrissenheit der Gesellschaft.
Pudel und Trendsetter
Der Elfjährige wandte sich erst einmal von solch schwerwiegenden Richtungsentscheidungen ab und dem Sport zu – und landete unvermittelt bei der Dauerwelle. Kevin Keegan, Star des damals ruhmreichen FC Liverpool, hatte sich beim Wechsel nach Hamburg für eine neue Frisur entschieden. Obwohl die künstlich aufgetürmte Lockenpracht dem Fußballprofi, der am Sonntag 70 Jahre alt wird, zunächst den Spitznamen Pudel einbrachte, wurde der Stürmer zum Trendsetter in der Branche.
Ein Coup des HSV
Der HSV hatte im Sommer 1977 einen Coup gelandet. Keegan hatte im Mai mit dem FC Liverpool das Endspiel um den Europapokal der Landesmeister gegen Borussia Mönchengladbach gewonnen und war nach vier Meisterschaften und als Uefa-Cup-Gewinner in seiner Heimat ein Star. Die HSV-Bosse überwiesen jedenfalls 500.000 Pfund nach Liverpool und verdoppelten damit den damaligen Transferrekord in der Bundesliga.
Grundstein für ein erfolgreiches Jahrzehnt
Am Anfang werden sie sich an der Elbe dennoch gefragt haben, wen sie sich da eigentlich angelacht hatten. Der Engländer zeigte Anpassungsschwierigkeiten, leistete sich bei einem Freundschaftsspiel sogar eine Tätlichkeit und wurde für acht Wochen gesperrt. Spätestens in der zweiten Saison startete Keegan – und mit ihm der HSV – durch. Auch wegen 17 Toren der Mighty Mouse, wie die Fans ihren Publikumsliebling getauft hatten, holte der HSV den Meistertitel und startete das erfolgreichste Jahrzehnt der Klubgeschichte.
Gesangsversuche von Kevin Keegan
Es ist nicht einfach, aus 40 Jahren Distanz die Faszination eines Jungen, dessen sportliche Vorbilder damals die Handballer Joachim Deckarm oder Erhard Wunderlich waren, für den englischen Fußballstar zu erklären. Keegans Gesangsversuche, die ihn mit „Head over Heels in Love“ auf Platz zehn der Charts brachten, waren es sicher nicht. Eher vielleicht das Bild einer heilen Welt, die Bodenständigkeit des Sprosses einer irisch-nordenglischen Minenarbeiter-Dynastie.
In erster Linie aber faszinierte natürlich die kraftvolle Dynamik des mit 1,70 Metern deutlich klein geratenen Spielers, sein deshalb unwiderstehlich wuseliges Spiel.
Drei Jahre blieb der zweimalige Fußballer des Jahres in Hamburg. Der beim Abschied Keegans dann 14-jährige Junge verlor den Spieler, der später als Trainer unter anderem glücklos die englische Nationalmannschaft betreute, erst einmal aus den Augen. Altersgerechte Ausbrüche pubertärer Rebellion verdrängten kindliche Heldenverehrung zugunsten der Frage nach Latzhose oder Lederjacke. Als sentimentale Erinnerungen an jene Zeit haben sich dann aber doch Kevin Keegan und seine Dauerwelle durchgesetzt.