Im April 1976 gewann der FC Bayern München gegen Real Madrid mit 2:0. Gerd Müller konterkarierte dabei jede Erinnerung an ihn. Eine Gastkolumne von Tibor Meingast.

Die perfiden Algorithmen der heimlichen Weltregierung von Google, mit denen der Konzern seine Kunden ausspäht, sind ja schon irgendwie dämonisch. Andererseits haben sie aber auch ihre Qualitäten und helfen gelegentlich sogar, verkrustete Legenden von der glorreichen alten Fußballzeit zu entzaubern.

Das von Google gekaufte Videoportal Youtube macht, um den Benutzer auf der Seite zu halten, immer sehr exakt auf das frühere Verhalten dieses Kunden abgestimmte Vorschläge für ein nächstes interessantes Video. Auf den Pfaden des Barden Henning May von AnnenMayKantereit, mit dieser wie mit ganz fein gekörntem Schmirgelpapier bearbeiteten Stimme, werden mir die üblichen Verdächtigen angezeigt: Pink Floyd, Queen, Element of Crime und – wegen meiner geradezu suchtgleichen Präferenz – Fußballvideos. Darunter eine fast vergilbt wirkende Kachel mit mehr als 40 Jahre altem Inhalt. Der Titel auf Englisch, in sperriger Bürokratensprache: „Gerd Müller vs. Real Madrid – 1975-76 European Cup Semi Final 2nd leg“, gut zehn Minuten lang.

Es ist in schrecklicher Bildqualität und im alten Fernsehformat 4:3 eine echte Perle, trotz störender Schrifteinblendung mit einer mitlaufenden Uhrzeit. Aber was ist da tief Vergessenes zu sehen im weiträumigen Münchener Olympiastadion am 14. April 1976? Außer Standaschenbechern vor den Trainerbänken, die auch eifrig genutzt wurden, und zwei Mannschaften mit herrlich einfarbiger Bekleidung ohne jede Aufschrift und – wie aus einer fernen Galaxie – mit ausschließlich schwarzen Schuhen.

Der Bomber der Nation als Ballverteiler

Im Mittelpunkt steht ein Mann, der hier jede Erinnerung an ihn konterkariert. Gerd Müller – war das nicht der Bomber der Nation, mit Waden wie Brückenpfeilern, der sich auf engstem Raum drehte, und bei dem gleich hinter dem Elfmeterpunkt die Weitschusszone begann? Dieser gedrungene Mann, der sich gewöhnlich doch nur im gegnerischen Strafraum aufhielt und den allenfalls mal zum Doppelpass verließ, der schwebte in jenem Spiel durchs Mittelfeld und – verrückt – auch durch die eigene Spielhälfte. Als Ballverteiler!

Nach acht Minuten schießt dieser so untypische Müller aus 18 Metern mit links das 1:0, später dann doch in seiner bekannten Manier mit Drehung und rausgedrücktem Hintern das 2:0. Das genügt nach dem 1:1 in Madrid (Tor Müller) zum Einzug ins Finale, das die Münchener gegen St. Etienne mit 1:0 gewinnen sollten.

Es wirkt heute geradezu märchenhaft grotesk, dieses Video. Da boxt ein Spanier mit ausgestrecktem Arm eine Flanke von Dürnberger zur Ecke – keiner nimmt daran Anstoß, und erst recht keiner guckt sich das noch mal an. Und das Herz bleibt einem fast stehen, als Sepp Maier einen Rückpass ungeniert in beide Hände nimmt.

161.000 Mal ist dieses Video bisher angeklickt worden. Wer es sich ansieht, den ergreift das Gefühl, dass er gerade einen Ausflug in eine andere Zeit unternimmt. In der es weder Google gab – noch grellbunte Fußballschuhe.

Tibor Meingast (61) ist freiberuflicher Sportjournalist und lebt in Bottrop. Er arbeitet seit vielen Jahren für das ZDF.