Freiburg. Bundestrainer Joachim Löw sieht das DFB-Team auf dem Weg zurück in die Weltspitze. Im Interview verrät er, wie er sein Team zukunftsfähig macht.

Joachim Löw wirkt entspannt. Wir sitzen in einem Freiburger Hotel, er bittet - natürlich - um einen Espresso, er lächelt häufig, er fühlt sich offensichtlich wieder gut. Im Juni setzte ein Sportunfall den Bundestrainer außer Gefecht, doch wesentlich mehr hatte ihm vor einem Jahr der frühe WM-K.o. seiner Nationalmannschaft zu schaffen gemacht. Wie er diese schwere Zeit überstanden hat und wie er sein Team zukunftsfähig macht, das erzählt der 59-Jährige vor den beiden EM-Qualifikationsspielen gegen die Niederlande in Hamburg (Freitag) und gegen Nordirland in Belfast (Montag, jeweils 20.45 Uhr/RTL).

Herr Löw, Sie haben die vergangenen beiden Länderspiele in Weißrussland und gegen Estland, die beide gewonnen wurden, wegen eines Sportunfalls verpasst. Wie war das für Sie?

Bundestrainer Joachim Löw (r.) im Gespräch mit Peter Müller.
Bundestrainer Joachim Löw (r.) im Gespräch mit Peter Müller. © Achim Keller

Joachim Löw: Es ging mir in jeder Hinsicht schlecht. Ich konnte mit dieser Situation nicht richtig umgehen. Ich saß zu Hause und war sehr angespannt. Das war alles total ungewohnt, das kannte ich gar nicht: Diese Hilflosigkeit, diese Nervosität, die sich dadurch ergibt, dass du nicht eingreifen kannst. All das hatte ich so nicht erwartet, da ist es mir doch deutlich lieber, Einfluss nehmen zu können. Das muss ich nicht noch einmal haben. Aber ich möchte betonen, dass unser Trainerteam super gearbeitet hat. Von der Mannschaft sah man den Aufwand, den Willen, den wir uns gewünscht hatten.

Seit der WM ist etwas mehr als ein Jahr vergangen. Die ersten Monate nach dem Vorrunden-Aus waren sicher hart für Sie. Wie sind Sie mit der massiven Kritik umgegangen, die in Rücktritts- und Entlassungsforderungen gipfelte? Wie haben Sie den Stress verarbeitet?

Löw: Ich habe natürlich eine große Enttäuschung in mir gespürt. Ich war enttäuscht darüber, es nicht geschafft zu haben, unsere Nation nicht wieder in einen Freudentaumel versetzt zu haben. Dass die Kritik massiv ausfallen würde, war ja klar. Aber ich habe im Laufe der Jahre gelernt, das alles richtig einzuschätzen. Nach dem WM-Sieg 2014 gab es überall Schulterklopfer. Auch das war zu viel, das war das andere Extrem. Ich versuche, im Gleichgewicht zu bleiben. Dafür habe ich gewisse Mechanismen. Ein bisschen Sport gehört dazu, ich schalte auch manchmal ganz vom Fußball ab.

Das muss man erst mal können…

Löw: Ja, das musste ich auch erst lernen. Bis vor ein paar Jahren konnte ich das nicht. Heute weiß ich: Ich muss mich mal rausnehmen, damit ich nicht verbrenne. Ich gehe zum Beispiel raus in die Natur, und das Handy bleibt dann konsequent aus.

Sie hätten es sich leicht machen und alles hinschmeißen können – der Weltmeistertrainer von 2014 wären Sie trotzdem auf ewig geblieben. Warum war es Ihnen so wichtig, im Amt zu bleiben?

Löw: Wir haben es verbockt, und ich war maßgeblich daran beteiligt. Meine Motivation war schon am nächsten Tag wieder da – trotz oder vielleicht sogar: wegen dieser riesengroßen Enttäuschung. Oliver Bierhoff und ich haben uns zusammengesetzt, und wir waren uns schnell einig darin, dass wir weitermachen. Wir waren beide total angefressen, aber wir haben uns gesagt: So gehen wir nicht! Wir beweisen es noch einmal.

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Inzwischen haben Sie den Umbruch eingeleitet. Wo sehen Sie Ihre Mannschaft in diesem Jahr zwischen den großen Turnieren?

Löw: Man spürt eine Aufbruchstimmung. Die Jüngeren haben Lust, Verantwortung zu übernehmen. Sie sind talentiert, motiviert, lernwillig. Aber wir vermissen noch die Stabilität über einen langen Zeitraum. Auch das Selbstverständnis, den eigenen Fähigkeiten komplett zu vertrauen – egal, gegen wen wir spielen. Aber das hat bei der Generation davor auch drei, vier Jahre gedauert. Wir sind auf einem guten Weg. Zurück in die Weltspitze. Aber zum Glück haben wir bis zum Turnier noch ein Jahr Zeit.

Was nehmen Sie mit von der WM 2018?

Löw: Wir haben eine knallharte Analyse durchgeführt, angefangen bei uns Trainern. Natürlich haben wir uns gefragt: Was haben wir falsch gemacht? Von 2014 bis 2017 war unsere Mannschaft sehr gut, da gab es keine Anzeichen für ein frühes Ausscheiden. Uns sind bei diesem Turnier die Augen geöffnet worden. Ich hatte ganz fest damit gerechnet, dass wir sicher durch die Vorrunde gehen würden. Ich war vielleicht so arrogant zu sagen: Mexiko wollen wir gleich in der ersten halben Stunde hinten reindrücken. Unser Selbstvertrauen war ja groß

Vielleicht zu groß…

Löw: Unsere Spielweise war in den vier, fünf Jahren davor darauf ausgerichtet, unabhängig vom Gegner gnadenlos unser Spiel durchzuziehen. Aber vielleicht hatte ich es unterschätzt, dass zu einem Turnierstart immer auch ein bisschen Unsicherheit gehört. Ich hätte nicht so ein großes Risiko gehen dürfen, das war fahrlässig, das kreide ich mir an. Das hat uns durcheinandergewirbelt. Also musste ich nach der WM nach anderen Möglichkeiten und Lösungen suchen, wieder offen für Innovationen sein. Man fragt sich ja nach jedem Turnier: Welche neuen Impulse kann man geben, welche neuen Reize kann man setzen?

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Und welche sind das nun?

Löw: Zum einen sind es personelle Veränderungen. Zum anderen haben wir uns auch gefragt: Wie sieht der Fußball der Zukunft aus, und wie sieht der Spieler der Zukunft aus? Die Erkenntnis ist, dass es bei den kognitiven Fähigkeiten noch Steigerungspotenzial gibt. Es geht um Handlungsschnelligkeit, es geht darum, richtige Entscheidungen zu treffen. Wenn sich ein Gegner organisieren kann, spielt man gegen eine Wand. Eins-gegen-eins-Spieler sind wichtig geworden, und wir haben Spieler, die das können. Es ist auch nicht mehr so wie früher, dass Defensive Turniere gewinnt. Wer Tore erzielt, gewinnt Turniere.

Also mussten Sie den Fußball der Nationalmannschaft entsprechend umstellen?

Löw: Ich würde sagen: anpassen. Nicht grundlegend umstellen. Die Anforderungen haben sich verändert. Wir haben uns im Prinzip jahrelang den Gegner so zurechtgelegt, wie wir es wollten. Es war eine Frage der Zeit, bis die Gegner einknickten. Aber 2018 sind wir in diesem Ballbesitz fast gestorben. Es gab kein schnelles Umschalten mehr. Wir waren zu langsam – im Kopf, in der Bewegung, zu langsam am Ball. Klar ist aber auch, dass die Zeit des Ballbesitzfußballs nicht vorbei ist. Wer das denkt, macht einen Fehler. Wer sich nur aufs Verteidigen, auf Defensive, aufs Verwalten verlegt, der wird auf Dauer nichts gewinnen. Wer Tore schießen will, der wird Erfolge haben. Das haben doch die zurückliegenden Spiele der Champions League mit Barcelona, Tottenham, Amsterdam und Liverpool eindrucksvoll gezeigt.

Sie haben sich von Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng getrennt. Allerdings mit Verzögerung, nicht direkt nach der WM.

Löw: Nach der WM war ich mir noch nicht sicher. Natürlich sind alle drei Spieler dazu in der Lage, weltklasse zu spielen. Das sind sie immer noch. Ich dachte, für die Nations League brauchen wir auch erfahrene Spieler, gerade bei Gegnern wie Frankreich und Niederlande. Aber nachdem die Ergebnisse nicht so gut waren, kam ich zu der Erkenntnis, dass wir für die EM-Qualifikation einen klaren Umbruch brauchen und perspektivisch arbeiten müssen.

Gesetzt im DFB-Team: Leroy Sané.
Gesetzt im DFB-Team: Leroy Sané. © Getty Images

Sie hätten die Tür für dieses Trio noch einen Spalt weit offen lassen können, Sie hätten den Spielern sagen können, dass Sie vielleicht noch mal auf sie zurückkommen, falls es mit den Jüngeren nicht wie gewünscht klappen sollte. Aber Sie haben die drei Nationalmannschafts-Karrieren für beendet erklärt. War diese Konsequenz nötig?

Löw: Ob es im Fußball etwas Endgültiges gibt, weiß ich nicht. Aber diesen Spielern habe ich klar gesagt, dass wir nicht mehr mit ihnen planen. Ich wollte nicht herumeiern, ich wollte ihnen reinen Wein einschenken. Das sind Weltmeister. Sie haben Überragendes für Deutschland geleistet. Sie sind Idole. Denen ich selbst ganz viel zu verdanken habe. Wir sind einen langen gemeinsamen Weg gegangen, haben gemeinsam viele Widerstände überwunden. Gerade deshalb können sie Klarheit von mir erwarten. Entweder man zählt auf solche Spieler, oder man probiert etwas anderes und steht ohne Wenn und Aber zu den Konsequenzen. Ich muss als Trainer diese Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen, so schmerzhaft das dann auch ist.

Ist bei dieser harten Entscheidung nicht etwas kaputt gegangen?

Löw: Nein. Ich hatte schon wieder sehr gute Kontakte und bin sicher, über die Zeit wird nichts hängen bleiben. Bei einer Trennung gibt es im Prinzip nie den richtigen Zeitpunkt, es gibt immer Enttäuschungen. Als Trainer aber muss ich an die gesamte Mannschaft und an die Zukunft denken.

Nun sind jüngere Spieler nachgerückt, ein Gerüst ist erkennbar. Für die kommenden beiden Länderspiele haben Sie Luca Waldschmidt vom SC Freiburg nominiert. Dürfen sich weitere Debütanten Hoffnungen machen, oder ist der erweiterte Kreis mit Blickrichtung EM bereits gefunden?

Löw: Von dem erweiterten Kreis habe ich schon klare Vorstellungen. Die U21 hat ein gutes EM-Turnier gespielt, es ist ja klar, dass wir immer einen Blick auf unsere eigenen Auswahlmannschaften haben. Es sind sicher viele interessante Spiele mit großen Fähigkeiten dabei. Aber was sie brauchen, sind vor allem Einsatzzeiten. Sie müssen spielen, regelmäßig, und zwar auf höchstem Niveau. Es gibt ein Gerüst. Wir brauchen eine gewisse Kontinuität, denn die Mannschaft muss sich ja auch einspielen. Deshalb bin ich auch enttäuscht darüber, dass Leroy Sané, Julian Draxler, Thilo Kehrer und Antonio Rüdiger jetzt verletzt ausfallen.

Leroy Sané war vor einem Jahr aus Ihrer Sicht nicht gut genug für die WM, jetzt wird er vermisst.

Löw: Ja. Weil er sich in diesem einen Jahr gut entwickelt hat, weil er auch in den letzten vier, fünf Spielen bei uns eine gute Form gezeigt hat. Mit seiner Art zu spielen, kann er die Gegner destabilisieren.

So weit wie beispielsweise der Franzose Mbappé sind die jungen deutschen Spieler aber noch nicht.

Löw: Spieler wie Sané, Gnabry, Brandt, Werner sind auf einem guten Weg, sie haben alle Möglichkeiten. Aber sie sind noch nicht in der absoluten Weltklasse eines Messi und Ronaldo. Sie sind noch nicht so weit, dass sie über Jahre auf höchstem Niveau bestehen können.

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Sie sind nun seit 13 Jahren im Amt, im Fußball ist das eine Ewigkeit. Was hat sich verändert seit 2006?

Löw: Junge Spieler sind inzwischen auch viel stärker visuell erreichbar, wir arbeiten also auch mit Medien, mit Filmsequenzen, die wir ihnen in einer App bereitstellen. Wir visualisieren unsere Informationen viel stärker als das früher der Fall war. Klar, dass wir mit der Zeit gehen. Man muss der heutigen Generation alles zeigen, Erklärungen allein reichen nicht, die Spieler wollen es sehen, um es zu verstehen. Und die Hierarchie ist anders geworden, die war früher klassisch und klar. Heute reden die Jungen mit, sie trauen sich, etwas zu sagen. Sie wollen Verantwortung übernehmen, bringen sich ein, stellen Fragen. Auch, wenn ihnen die Spielweise nicht passt. Diese Generation tickt ganz anders. Sie ist auch im Netz zu Hause, sie ist häufig mit dem Handy beschäftigt.

Wie viel Einfluss können Sie auf Ihre Spieler nehmen?

Löw: Der ist natürlich schon deswegen begrenzt, weil ich sie nur alle paar Wochen sehe. Und dann immer nur für ein paar Tage. Ein Spieler ist heutzutage ja auch eine eigene Unternehmung. Er hat Beraterstäbe um sich herum, da geht es um Karriereplanung, auch um hochdotierte Werbeverträge. Ich kann den Spielern helfen, den Weg für ihre sportliche Laufbahn zu finden. Aber ich muss bei jedem Lehrgang wieder neu damit beginnen, persönliche Nähe herzustellen, erst bei Turnieren über ein paar Wochen hinweg rückt man ganz eng zusammen. Manchmal denke ich: Wenn ich die Mannschaft mal drei, vier Monate zusammen hätte, das wäre für mich wie ein Sechser im Lotto. Ich reise hierhin, ich reise dorthin, sehe Spiele, führe Gespräche, aber am liebsten stehe ich bei meiner Arbeit mit den Spielern auf dem Platz.

Gerade weil Sie viel unterwegs sind: Wünschen Sie sich manchmal mehr Privatsphäre?

Löw: Ja. Die Leute sind in der Regel sehr freundlich. Das ist auch eine wunderbare Erfahrung. Aber ich weiß natürlich, dass meine Privatsphäre endet, sobald ich vor die Tür gehe. Weniger für mich als für Freunde oder Familienmitglieder kann das mitunter auch schwierig sein, denn auch sie bekommen natürlich mit, wenn man beobachtet wird, zum Beispiel beim Essen in einem Restaurant. Ich weiß aber, dass das dazugehört, und in der Regel ist es eine Form der Wertschätzung.

Letzte Frage: Wer verliert eigentlich das Finale der Europameisterschaft 2020 gegen Deutschland?

Löw: Wer es gegen uns verliert? (lacht) Das ist mir wurscht. Aber im Ernst: Es ist ein ganz weiter Weg. Aber klar ist, dass wir wieder dahin wollen.