Essen. Was man so erlebt, wenn man über die Jahre viele Revierderbys zwischen dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund sieht. Eine Kolumne.

Derby-Erinnerungen. Als Junge stehe ich 1976 mit meinen Kumpels im Westfalenstadion direkt hinter hinterm Tor. Unmittelbar vor uns erst Enver Maric, dann Horst Bertram. Oder umgekehrt, wie soll man das noch wissen. Das Spiel endet 2:2. Unser Platz ist faszinierend. Wir können den Rasen riechen, die Rufe der Spieler hören.

Peter Müller
Peter Müller

Derby-Erinnerungen. Vor dem letzten Spieltag derselben Saison verspricht mir ein Freund meines Vaters zum Wochenbeginn, er werde über einen Arbeitskollegen für das Derby am Samstag im Parkstadion noch zwei Stehplatzkarten besorgen. Als mein Freund und ich die Tickets am Samstagmorgen abholen wollen, erschrickt der gute Mann. Er hat uns vergessen. Aber er ruft seinen Arbeitskollegen an, der die Karten tatsächlich noch hat. Und er fährt uns sofort hin – der Kollege wohnt am Schalker Markt. So erleben wir einen Schalker 4:2-Sieg mit, der ein historischer hätte werden können. Weil er zur Deutschen Meisterschaft gereicht hätte, wenn, ja wenn Konkurrent Borussia Mönchengladbach nicht zeitgleich 2:2 beim FC Bayern gespielt hätte. Dieser eine Punkt ist entscheidend. Ein aufregender Tag.

Derby-Erinnerungen. Schalke hat 1983 den ersten Abstieg hinter sich und steht kurz vor dem zweiten. Alles wirkt an diesem Tag fremd im Parkstadion. Dortmund gewinnt 2:1, beide BVB-Tore schießt ein Schalker Junge: Rüdiger Abramczik, den Schalke drei Jahre zuvor in finanzieller Not verkauft hat. Ich bin einer von nur 35.000 Zuschauern in dieser riesigen, halbleeren Betonschüssel. Heutzutage unvorstellbar.

Ein Schock. Schlägereien. Schutz.

Derby-Erinnerungen. 1985 sterben beim Europapokalfinale in Brüsseler Heyselstadion 39 Menschen, weil Fans des FC Liverpool Jagd auf Fans von Juventus Turin machen. Ein Schock. Aber nicht für jeden. Nur drei Tage später rennen Schalker und Dortmunder Fans auf den Rasen des Parkstadions und prügeln heftig aufeinander ein. Nach dem Schalker 3:1-Sieg fliegen Bierflaschen, reitende Polizisten setzen Schlagstöcke ein. Ich suche Schutz und liege ganz gut: unter einem Bratwurstwagen.

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Derby-Erinnerungen. Im Mai 1997 ist das Revier vereint. Die um ihre Arbeitsplätze bangenden Bergleute gehen auf die Straßen, weil die Kürzung der Kohlesubventionen angekündigt wurde. Beim Derby, das der BVB durch Michael Zorc mit 1:0 gewinnt, hallen „Ruhrpott“-Rufe durchs Westfalenstadion. Es ist imponierend, es ist rührend, es ist: ein Rausch für wenige Wochen, in denen Schalke den Uefa-Cup und der BVB die Champions League gewinnt. „Ruhrpott, Ruhrpott“. Ich würde gerne mitrufen. Aber auf der Pressetribüne macht man so etwas nicht.

Derby-Erinnerungen. Im Jahr 2000 winken BVB-Fans mit weißen Taschentüchern, wenn Andreas Möller am Ball ist. Früher hatten genau das die Schalke-Fans getan. Aber Möller hat die Seiten gewechselt. Selten bin ich als Reporter mehr beeindruckt von einem Fußballer als an diesem Tag: Möller, als Heulsuse verschrien, hält dem größten denkbaren Druck stand, er spielt grandios, Schalke gewinnt in Dortmund 4:0. Ich schreibe: Der Tag, an dem Andreas Möller ein Schalker wurde.

Als die Welt den Atem anhielt

Derby-Erinnerungen. Am 11. September 2001 hält die Welt den Atem an. Terror in den USA, Tausende Tote. Die Uefa aber lässt Schalke und Dortmund am Abend Champions League spielen. Am Morgen danach: Interviewtermin mit Andreas Möller – das Derby steht bevor. Er will absagen, nicht über Fußball reden. Er bleibt, als ich ihm vorschlage, über den Zwang zu sprechen, als Fußballprofi immer öffentlich funktionieren zu müssen. Samstags stehen die Spieler beider Mannschaften Hand in Hand am Mittelkreis. Ausgerechnet Andy Möller schießt das einzige Tor. Er jubelt verhalten. Nach dem Spiel verweigert er jeden Kommentar. Zu mir sagt er im Vorbeigehen: Gut, dass wir das Interview gemacht haben.

Derby-Erinnerungen. 2008 erlebt der neue BVB-Trainer Jürgen Klopp sein erstes Revierderby. Schalke führt in Dortmund 3:0. Ein Gelsenkirchener Kollege schickt einem befreundeten BVB-Fan feixend eine SMS (für Jüngere: wie WhatsApp, nur teuer; für Ältere: wie Brieftaube, nur schneller). Nach dem 3:3 schreibt der BVB-Fan zurück.

Derby-Erinnerungen. Im November 2017 liegt Schalke in Dortmund zur Pause 0:4 zurück. Die Spielberichte für die Online-Portale sind bereits nach 45 Minuten analytisch verfasst. Bei Twitter fällt meine Kritik an den Schalkern vernichtend aus. Keine gute Idee - nach Naldos 4:4 bricht ein Shitstorm über mich herein. Aber das ist nicht das Schlimmste, was einem an dem Tag passieren kann. Ich kenne einen Schalker, der in der Halbzeit nach Hause gefahren ist.