Kamen. Julian Brandt ist eines der Gesichter des Umbruchs in der Nationalmannschaft. Seine Generation schiebt die Machtübernahme an.

Was dieser Julian Brandt (22) für ein Typ ist, zeigt sich schnell. Der Profi von Bayer Leverkusen kommt zu spät zum Interview-Termin. Moderat zu spät. Er entschuldigt sich glaubhaft – und verlängert das Gespräch eigenmächtig um mehr als die Zeit, die er zu spät kam. Denn es gibt viel zu bereden über diese Fußball-Nationalmannschaft, die die WM vermurkste und nun in der Nations League absteigt. Das Spiel gegen die Niederlande am Montag (20.45 Uhr / ARD) in Gelsenkirchen ist das letzte eines miesen Jahres, das aber auch sein Gutes hat: Der Umbruch geht voran. Und Brandt gehört zu jenen, die das für sich nutzen wollen. 

Herr Brandt, seit Freitag ist der Abstieg in der Nations League gewiss. Was bedeutet das für den deutschen Fußball?

Julian Brandt: Dass es keine Auswirkungen für unser Fernziel hat – eine erfolgreiche EM 2020.

Worum geht es gegen die Niederlande am Montag noch?

Brandt: In der jetzigen Situation tut jeder Sieg gut. Egal, ob Du sonst bei Bayern, Schalke oder Leverkusen spielst. Wir wollen ein gutes Jahresende erzwingen, uns noch einmal beweisen – und vielleicht gelingt uns gegen die Niederlande auch eine kleine Revanche für das Hinspiel (0:3, Anm. d. Red.).

Sie sind 1996 geboren worden und kennen die Nationalmannschaft seit 2006 eigentlich nur als erfolgreiches Unternehmen. Wie fühlt es sich an, jetzt Teil dieser etwas schwereren Phase zu sein?

Brandt: Natürlich ist es so, dass es sich merkwürdig anfühlt, sozusagen neues Terrain zu betreten, wenn man sonst gewohnt war, die Nationalmannschaft in einer sehr erfolgreichen Zeit zu erleben. Aber wir haben nun die Chance, den Umbruch anzuschieben und ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Das Scheitern als Chance?

Brandt:  Genau. Dass wir gerade einen Umbruch erleben, das merkt man ja. Und ich versuche es positiv zu sehen, dass wir als ‚die neue Generation‘ die Chance erhalten, neue Komponenten ins Spiel einzubringen, die uns hoffentlich guttun.

Sie entstammen wie Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Leon Goretzka, Niklas Süle oder auch Leroy Sané den starken Jahrgängen 1995 und 1996. Welche Aspekte sind es, die Ihre Generation einbringen kann?

Brandt:  An unserem Jahrgang merkt man sehr deutlich, dass der Fußball sehr schnell geworden ist. In jeder Hinsicht. Alle sind in Nachwuchsleistungszentren aufgewachsen und ausgebildet worden. Dort wurde viel Wert auf Ballbesitzfußball und Schnelligkeit gelegt, nicht mehr nur darauf, zum Beispiel taktisch sicher zu stehen. Der Fußball entwickelt sich ständig weiter, das sieht man an den angesprochenen Jahrgängen. Und es sind erfolgreiche Jahrgänge: Wir sind U19-Europameister geworden, Teile dieser Mannschaft später auch U21-Europameister.

Eine Parallele zu Mats Hummels, Jerome Boateng, Mesut Özil, Manuel Neuer und Benedikt Höwedes, die 2009 U21-Europameister wurden und fünf Jahre später Weltmeister.

Brandt:  Wir werden oft mit dieser Generation verglichen. Ich hoffe, dass wir eine neue ‚Goldene Generation‘ werden können. Das Potenzial ist auf jeden Fall da. Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich den exakt selben Weg gehen können. Aber wir sind stark und motiviert.

Haben Sie Respekt vor diesen Fußstapfen?

Brandt:  Ich habe großen Respekt davor, was die älteren Spieler schon geleistet haben. Und es fühlt sich komisch an, dass sie nach vielen Jahren des Lobes und ihren Verdiensten gerade so kritisiert werden. Es scheint, als sei nach dieser WM eben nichts mehr, wie es mal war. Aber wir sollten nicht vergessen: Diese Spieler haben jahrelang absolutes Top-Niveau abgeliefert und als Höhepunkt den WM-Titel gewonnen. Es ist nicht leicht, diese Fußstapfen auszufüllen. Aber als junger Spieler musst du auch nicht den gleichen Weg wie sie einschlagen, sondern versuchen, eigene Fußstapfen zu hinterlassen. Das ist der Anspruch, den wir an uns haben.

Hoffnung macht auch Ihr Leverkusener Mannschaftskamerad Kai Havertz, der am Donnerstag gegen Russland sein Startelf-Debüt in der Nationalelf gefeiert hat. Was sagen Sie über ihn?

Brandt:  Er ist ein sensationeller Spieler, der auch gegen Russland gezeigt hat, welch Genie er sein kann. Er bringt alles mit, auch vom Kopf her. Er ist besonnen und zurückhaltend. Es ist bemerkenswert, wie gut er das macht, wie weit er ist. Auch im Verein findet er die Konstanz, die es braucht.

Bei ihm sieht alles so leicht aus. Haben Sie einen ähnlichen Eindruck?

Brandt:  Die meisten 19-Jährigen wären wahrscheinlich nervös beim ersten Länderspiel von Beginn an. Er nicht. Das ist auch nicht geschauspielert. Er ist einfach so und hat eine fantastische Ruhe. Das ist eine Stärke, die er sich beibehalten muss und wird. Ich habe selten jemanden gesehen, der mit 19 schon so gut war.

Ihnen hat man nach der WM die bedeutsame Rückennummer 10 anvertraut, die zuletzt Mesut Özil getragen hat. Wie wollen Sie sie ausfüllen?

Brandt: Ich bin kein Typ, der sein möchte wie ein anderer. Deswegen habe ich in meinem Leben auch nicht sonderlich viele Vorbilder gehabt. Ich möchte vielmehr mein eigenes Bild malen, das vielleicht wiederum andere interessant finden. Auch als Mannschaft müssen wir ab sofort wieder unsere eigene Geschichte schreiben Momentan noch mit den älteren Spielern gemeinsam, aber irgendwann werden wir es alleine schaffen müssen – und dann müssen wir bereit sein.

Sie entsprechen nicht dem mittlerweile gängigen Klischee des Fußball-Profis. Sie tragen keine Designer-Klamotten, fahren keine schnellen Autos, lassen sich keine Tattoos stechen und bedienen eher ungern die Social-Media-Kanäle. Woher kommt das?

Brandt:  Ich fühle mich nicht als Gegenentwurf zu irgendwem.  Ich gebe mich so, wie ich bin und wie meine Eltern mich erzogen haben. Ich lebe das so und fühle mich gut damit. Ich fahre auch gern mal ein Auto, das schnell ist. Oder freue mich, wenn ich mir eine Uhr kaufen kann, die mir schon lange gefällt.

Sie sagten neulich, Sie hassten Social-Media-Kanäle.

Brandt: Die Wortwahl war vielleicht nicht ganz glücklich (lacht). Ich ‚hasse‘ es nicht.

Dann sind Sie vielleicht einfach kein guter Selbstvermarkter?

Brandt:  Das war ich noch nie. Ich vertrete meine Meinung und habe eine Haltung, aber ich muss mich nicht in den Vordergrund reden. Es gibt bestimmt Leute, die mir raten würden: Du musst dich mehr aufdrängen. Und ich sage immer allen: Ich mach‘ das schon, alles gut.

Stichwort Selbstbestimmung: Die Spieler der Nationalmannschaft haben sich einen Verhaltenskodex auferlegt. Dazu zählt ein Handyverbot während der Mahlzeiten und das Versprechen, die entstandenen Grüppchen wieder mehr durchzumischen. Braucht es diesen Kodex wirklich?

Brandt: Ich habe das Klima im Team immer – also auch bei der WM – als sehr angenehm empfunden. Aber grundsätzlich schadet es nicht, wenn man sich manches, was die Disziplin betrifft, wieder in Erinnerung ruft. Wir sind aber auch aus der Mannschaft heraus aufgeschlossen und aufgeweckt genug, solche Dinge ebenfalls aus eigenem Antrieb zu klären.

Zum Beispiel?

Brandt: Ich habe das mal im Verein erlebt: Eine halbe Stunde vor dem Training galt Handy-Verbot, aber irgendwann schlich sich ein, dass du es doch immer wieder benutzt. Dann geht die Disziplin verloren. Davon spielt niemand schlechter als vorher, aber das geht dann auf andere Verhaltensweisen über. Das ist eine Kettenreaktion. Deshalb ist es immer gut, sich an etwas zu orientieren. Aber das heißt nicht, dass wir uns vor ein paar Monaten bei der WM an keine dieser Regeln gehalten hätten.

Jene WM ist nun auch für ein gewisses Misstrauen der Fans verantwortlich. Die Heimspiele sind kaum noch ausverkauft, Vertrauen muss zurückerlangt werden. Haben Sie dafür Verständnis?

Brandt:  Wenn der Erfolg nicht da ist, dann verstehe ich schon, dass die Leute sagen: Diesen Fußball wollen wir im Moment nicht sehen. Und die späten Anstoßzeiten sind bestimmt auch nicht ideal. Ich kann auch verstehen, wenn wir mit Leverkusen an einem Donnerstagabend um 21 Uhr gegen Zürich spielen und nicht alle Karten vergriffen sind. Das Thema ist komplex.

Ihr Vater ist Ihr Berater. Welchen Rat hat er Ihnen gegeben, der immer noch wichtig ist?

Brandt:  Ein Satz, den ich verinnerlicht habe, ist: Egal, wie gut es läuft, bleib demütig! Das hat er mir immer gesagt. So hat er selbst immer gelebt. Sein Umfeld und seine Lebensumstände haben sich auch verändert, aber er sich nicht. Das ist eine Überschrift, an die wir uns immer gehalten haben und an die wir uns auch weiter halten wollen, egal wie erfolgreich meine Karriere verläuft.

Bei aller Demut: Wie hoch soll es denn gehen? Träumen Sie von einem großen Verein in Ihrer Karriere?

Brandt: Ich träume davon, so gut zu werden, wie es eben geht. Ich hatte Schwankungen in meinen Leistungen, das weiß ich. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es aufwärts geht für mich. Erst war ich bei der EM im vorläufigen Kader, dann bei der WM, jetzt habe ich die Nummer 10. Ich möchte helfen, bei der Nationalmannschaft ein neues, erfolgreiches Kapitel aufzuschlagen.