Eppan. Marco Reus ist mit 29 endlich fit für ein großes Turnier. Er könnte der entscheidende Faktor bei der WM werden.
Marco Reus erinnert sich recht genau. Wie Zinédine Zidane dieses Finale 1998 entschied, zwei Kopfballtore gegen Brasilien machte und Frankreich zum Titel führte. Vom Turnierbeginn bis zum Schluss. Immer da. Noch heute schwärmt er von Zidane, weil dieser das Besondere im Fuß hatte. „Das ist meine erste richtige Erinnerung an eine WM“, sagt Marco Reus auf der Terrasse des Nationalmannschaftshotels in Eppan an der Weinstraße. Damals war er neun Jahre alt. 20 Jahre später wird Reus selbst an einer WM teilnehmen. Erstmals. Viel zu lang dauerte das. Viel zu weh tat die Zeit. Jetzt soll, jetzt kann es sein Sommer werden. Ein bisschen Zidane sein. Warum eigentlich nicht?
Die Frage ist gut und berechtigt. Ob das Schicksal ihm, Reus, etwas schuldet? „Dann müsste ich ja noch acht Mal Deutscher Meister werden und zweimal Weltmeister.“ Reus lacht über seinen Scherz, der aber eigentlich bittere Wahrheit ist. Am Donnerstag ist es exakt vier Jahre her, dass der Profi von Borussia Dortmund das Flugzeug nach Brasilien nicht besteigen konnte. Sprunggelenksverletzung im letzten Testspiel gegen Armenien. WM-Aus 24 Stunden vor der Abreise. Die Mannschaft kam mit dem goldenen Pokal zurück. Reus sah das Finale am Fernseher.
2016 Abreise aus Trainingslager
2016 hätte er vielleicht der entscheidende Spieler sein können, um das verflixte Tor im Halbfinale gegen Frankreich zu schießen. Reus schaffte es wegen einer nicht abklingenden Schambeinverletzung nicht in den Kader. Abreise aus dem Trainingslager. Wieder kein großes Turnier für einen, der seit Jahren zu den besten Spielern des Landes gehört.
Selbst die WM 2018 geriet in Gefahr, als er sich im Sommer 2017 erneut schwer verletzte: Kreuzbandteilriss. Rückkehr erst im vergangenen Februar. Nun aber sieht es so aus, als wäre er endlich dabei bei der WM in Russland (14. Juni bis 15. Juli). Und es sieht so aus, als könnte Reus einer der entscheidenden Spieler sein. Der x-Faktor, der das Spiel des Weltmeisters auf eine höhere Stufe hieven kann. Mit Julian Draxler streitet er sich um den Platz auf der linken offensiven Seite. Aber auch eine anderweitige Verwendung von Reus als hängende Spitze im Zentrum ist denkbar.
Als „wahnsinnig geschickt, intelligent, für den Gegner überraschend“ adelt Bundestrainer Joachim Löw das Spiel des Mannes, auf den er so selten Zugriff hatte. Es begann ja alles schon unheilvoll. Im Mai 2010 wurde Reus erstmals zur Nationalelf eingeladen. Verletzt musste er absagen. Immer wieder. Debüt? Im Oktober 2011. Gerade mal 30 Länderspiele seitdem.
Reus sei „eine Waffe“, „eine Rakete“, sagt Löw. Einer mit gefährlicher Intuition. Unberechenbar. Löw liebt das so sehr, weil ihm diese Eigenschaften im Kader oft fehlten. „Bei ihm wirkt alles leicht. Das Timing stimmt bei seinen Pässen, er ist raffiniert im Torabschluss und deshalb ein Spieler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.“ Ungefragt aber geht das Lob des Bundestrainers auch über in Sorge, ob es Reus dieses Mal bei bester Gesundheit ins Flugzeug schafft.
Am Freitagabend zum Beispiel steht ja noch ein Spiel an: Deutschland gegen Saudi-Arabien in Leverkusen (19.30 Uhr/ARD). Letzter Test vor der Abreise nach Moskau am Dienstag. Die Erinnerung spukt in Reus‘ Kopf herum. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nicht daran denke. Aber es ist auch nicht so, dass ich mir jeden Tag Sorgen mache oder mit Angst in das Spiel gehe.“
Was tun als Bundestrainer? Den Mann einsetzen? Schonen? Ganzkörpereingipsen bis zum Abflug?
2014 Rückzug beim Jubel
Letzteres würde Reus doch für etwas übertrieben halten. Er wirkt entspannt, gereift, gewachsen an den Dingen. „Ich hatte besonders nach der letzten Verletzung viel Zeit, um nachzudenken über mein Leben.“ Ergebnis: „Ich bin nicht ernsthafter geworden, sondern eher noch lockerer. Ich habe festgestellt, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als Fußball.“ Aber im Fußball gibt es nichts Wichtigeres, Größeres als eine WM. Das weiß er.
Mario Götze, der Siegtorschütze von 2014, schickte nach dem Finale noch einen Gruß an seinen Kumpel. Er hielt ein Trikot mit Reus‘ Namen in die TV-Kameras. So war Reus dabei, ohne dabei zu sein. Live gesehen hat er die Botschaft nicht, er war schon ins Bett gegangen. Den Jubel anzusehen, hätte an Masochismus gegrenzt. „Wenn 2014 Schicksal war, dann war es eben so. Aber deswegen kann ich nicht darauf hoffen, dass ich alles zurückbekomme. Alles im Leben muss man sich hart erarbeiten. “
Das hat er vor. Wichtig ist ihm das Vertrauen in den Körper. Das sei da. Der Rest? Intuition. „Ich versuche immer, für besondere Momente zu sorgen. Wichtig ist zu wissen, dass ich es im Fuß habe.“ Das Besondere. Im richtigen Moment. Wie Zidane vielleicht.