Krefeld. Maryam Qasemi ist ein Fußballtalent aus Krefeld. 2016 hat sich ihr Leben verändert. Sie wurde zur Nationalspielerin im Heimatland ihrer Eltern.

Maryam Qasemi besucht die zehnte Klasse des Kurt-Tucholsky-Gymnasiums in Krefeld. Sie möchte später mal Medizin studieren, vielleicht auch eine Ausbildung zur Pilotin machen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die 15-Jährige ihre Ziele auch erreichen wird: Ihr Notendurchschnitt liegt bei 1,8. Und das trotz ihrer Fehlzeiten.

Maryam ist Fußball-Nationalspielerin. Sie spielt für das Heimatland ihrer Eltern. Für Afghanistan.

Mit zehn Jahren hatte sie es satt, sich nur als Zuschauerin die Spiele ihres jüngeren Bruders anzuschauen. Das Mädchen wollte selber das Trikot des Krefelder Vorort-Klubs SV Oppum tragen. Nach wenigen Monaten sahen ihre Trainer bereits, welch großes Talent sie mitbrachte. Mia, so wird Maryam Qasemi überall nur genannt, überzeugte mit Ehrgeiz, Zweikampfstärke und Stellungsspiel. Bei den Oppumer B-Juniorinnen ist ihr Stammplatz rechts in der Abwehr. „Wenn Mia fehlt, macht sich das schon bemerkbar. Unsere Torhüterin hat dann viel mehr zu tun“, sagt ihre Trainerin Daniela Koslitz.

Der Vater floh 1988 nach Europa

Das Talent ist die eine Sache, die Maryams besonderen Weg ins Nationalteam ebnete. Der Zufall ist die andere. Anfang des Jahres änderte die Schülerin ihr Profilbild bei Facebook. Wer im sozialen Netzwerk Maryam Qasemi fand, sah fortan ein Mädchen im Fußballtrikot. Die Krefelderin dachte sich nichts dabei. Dann erhielt sie eine Nachricht. Eine afghanische Nationalspielerin schrieb sie an. „Mein Nachname ist typisch für das Land. Deshalb wollte sie wissen, ob ich die Staatsbürgerschaft habe“, erzählt Maryam Qasemi. Sie antwortete, dass sie und ihre Familie aus Afghanistan stammen. Der Vater floh 1988 nach Europa, kurz bevor am Hindukusch der Bürgerkrieg ausbrach.

Maryam ist BVB-Fan

Maryam Qasemi aber ist in Deutschland geboren. Sie drückt bei Bundesliga-Spielen Borussia Dortmund die Daumen, plaudert in der Kabine gerne über die Musik-Charts, teilt ihre Vorlieben mit zigtausend Teenagern. Das Land ihrer Vorfahren kennt sie zwar von Besuchen, doch sie besaß nur einen deutschen Pass, keinen afghanischen. Nach der Facebook-Anfrage aber ging alles schnell. Maryam beantragte die afghanische Staatsbürgerschaft, kurz darauf folgte eine Einladung zu einem Sichtungslehrgang in Kalifornien. Und so flog die junge Frau mit Trainingssachen und Fußballschuhen im Gepäck an die Westküste der USA.

Unbewachtes Training ist nicht möglich

Der Zugang zum Fußballplatz war bewacht. Schwer bewaffnete Soldatinnen und Soldaten sicherten das Isaf-Gelände. Im Innenhof spielten afghanische Mädchen gegen amerikanische Soldatinnen der internationalen Schutztruppen des Landes Fußball. Abgeschirmt. So musste es schon 2004 sein. Die unterschwellige Bedrohung der Spielerinnen war auch nach Ende des Taliban-Regimes Alltag.

Einen direkten Angriff hat Klaus Stärk nie erlebt. „Die Taliban haben wichtigere Anschlagsziele“, begründet der 62-jährige Fußball-Trainer. Er war Entsandter des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Seine Mission damals: Mädchen und Frauen nach dem Taliban-Regime zum Fußballspielen zu bewegen. Außerdem wurden Multiplikatoren ausgebildet. Sprich: Es wurden Trainer-Lehrgänge organisiert und Fußballerinnen gesucht.

„Wir sind in Schulen gegangen und haben Spielerinnen angesprochen“, erinnert er sich. Fußballerinnen zu finden war nicht einfach: Viele Väter verboten es ihren Töchtern aus Angst vor den Taliban.

Die Arbeit von Stärk und seinen Kollegen Holger Obermann und Ali Askar Lali, dem späteren Frauen-Nationaltrainer, war schwierig: In Sporthallen und stark abgegrenzten Feldern wurde trainiert. „Aus Sicherheitsgründen haben wir das bewusst klein gehalten“, sagt Stärk.

Das waren die Anfänge. Auf Initiative von Keramuddin Karim, seit 2004 Präsident des afghanischen Fußballbundes, wurde 2007 die Frauen-Nationalmannschaft gegründet.

Die Anfeindungen der Spielerinnen blieben. Das Training musste verlegt werden. Öffentliche Einheiten: auf keinen Fall. Auf dem Nato-Gelände fanden die Frauen eine Möglichkeit, ihr Training zu absolvieren. Ihr Fußballfeld war gleichzeitig Hubschrauber-Landeplatz. Anders geht es bis heute nicht. Unbewachtes Training wird wohl niemals stattfinden. (Dominik Hamers)

Ihre Schule stellte sie für den Lehrgang frei. In Kalifornien zeigte die Krefelderin, was in ihr steckt. 45 Grad Celsius auf dem Trainingsplatz und die Tatsache, dass sie die mit Abstand jüngste Spielerin im Kader war, konnten sie nicht einschüchtern. Anfang September stand Maryam Qasemi bei einem Turnier auf dem Platz. Sie hörte die afghanische Hymne, trug ein Trikot mit dem Wappen und gab sogar Autogramme. Am Ende holte sich Maryam Qasemis Team mit einem Erfolg über den mexikanischen Klub Salinas FC den Turniersieg.

Als offizielles Länderspiel wurde die Partie zwar nicht gewertet, das wird die 15-Jährige aber vermutlich im kommenden Jahr bestreiten. Beinahe wäre sie über die Weihnachtstage zum Südasien-Cup nach Indien geflogen. Doch die Nationaltrainerinnen setzten für dieses Turnier noch auf erfahrene Spielerinnen. Maryam Qasemi kann es verschmerzen. Das Jahr 2016 bot ihr auch so genügend Höhepunkte. „Was ich erlebt habe, ist einfach unglaublich“, sagt sie.

Die Nachricht von ihrem sportlichen Aufstieg drang auch bis nach Herat vor, in der afghanischen Großstadt lebt ein Teil ihrer Familie. „Die waren unfassbar stolz, dass ich unser Land jetzt vertrete“, erzählt Maryam Qasemi.

Vor 15 Jahren wäre ihre Karriere noch undenkbar gewesen. Sport war für Frauen und Mädchen aus Afghanistan unter den Taliban verboten. Seit 2007 gibt es zwar eine Nationalmannschaft. Die spielte international aber keine große Rolle. Um das zu ändern, fahndeten die vom afghanischen Verband beauftragten amerikanischen Trainerinnen Kelly Lindsey und Haley Carter nach afghanischen Fußballerinnen, die in Europa und den USA leben.

Botschafterin durch den Sport

Maryam Qasemi will nun Teil einer Mannschaft sein, die das neue Selbstbewusstsein der afghanischen Frauen über den Sport transportiert. Eine Botschafterin einer zerrütteten Nation. Dass sie jetzt nicht mit nach Indien geflogen ist, stört sie nicht. „Wir Spielerinnen verstehen uns alle als Schwestern. Und meinen Schwestern drücke ich jetzt die Daumen“, sagt sie.

Für Daniela Koslitz hat es auch etwas Positives, dass Maryam an den Feiertagen und zum Jahreswechsel in Deutschland bleibt. „Sie kann jetzt bei den Hallenturnieren mitspielen, dadurch steigen natürlich unsere Chancen“, sagt die Oppumer Trainerin. Eine Nationalspielerin im Kader macht sich immer gut.