Ruhrgebiet. Ein Spiel dauert 90 Minuten, heißt es. Doch für viele Fans beginnt der Spieltag schon weitaus früher. Vor allem im Ruhrgebiet ist das nicht zu übersehen, wo ab dem späten Samstagvormittag jeder Nahverkehrszug und jede Straßenbahn zum Miniatur-Stadion wird.

Sa | 10:30 Uhr | S 28 Von Neuss nach Mettmann

BVB-Trainer Jürgen Klopp auf der Bahnstrecke Dortmund - Herne.
BVB-Trainer Jürgen Klopp auf der Bahnstrecke Dortmund - Herne. © WR RALF ROTTMANN

Da hat die DFL vor der Saison extra noch lanciert, dass immer mehr Frauen ins Stadion kämen, mehr als 23 Prozent der Zuschauer seien nunmehr weiblich. Wie aber reisen diese Frauen an? Offenbar nicht mit Schienenfahrzeugen. Der Nahverkehr bleibt die Domäne des männlichen Stadionbesuchers. In Düsseldorf sitzen vier Männer um halb elf in einer Zubringerbahn, tragen rot-weiße Schals am Handgelenk. Die Umgangsformen sind, ähem, ungehobelt. Beim Halt in Düsseldorf-Bilk empfehlen sie einem von ihnen, »die fette Oma auf dem Bahnsteig« zu einem Liebesakt einzuladen. Der neutrale Fahrgast denkt: So laut sprechen doch sonst nur Müllmänner und Schwerhörige miteinander. Das Quartett kreuzt die Bierflaschen, um 13 Uhr spielt Fortuna gegen Paderborn. Wir fahren weiter nach Dortmund, wo der FC Köln antritt.

Sa | 11:00 Uhr | RE 6 nach Minden

Beim ersten Halt in Duisburg steigen viele Dortmunder zu und vereinzelte Kölner. Ein FC-Fan sondiert zunächst die Stimmungslage, holt erst dann seinen Schal unter der Jacke hervor. Zum Frühstück verschlingt er die übliche Hauptbahnhofsverpflegung dieser Tage: einen Sesambagel mit Tomatenschnitz und Salatblatt. Die Bäckereiketten mit ihrem formatierten Gebäck sind der offizielle Lieferant der deutschen Fußballfans. Nur die Bordgetränke werden woanders gekauft. Zu ihrem 5-Liter-Party-Fass führen fünf Dortmunder eigens Plastikbecher mit, beiläufig registriert von anderen Mitfahrern. Fans und Nicht-Fans schweben an einem Spieltag in Paralleluniversen, die einander nicht berühren. Wo sie aufeinandertreffen, wirkt es manchmal so, als hätte man zwei Bilder übereinandergelegt.

Sa | 12:30 Uhr | der nächste RE 6

Gedrängel beim Einstieg am Essener Bahnhof, eine Bierflasche zerschellt am Boden. Drinnen wird es jetzt schon ziemlich eng: Die Dortmunder Dauerkartenfraktion steht überall, vor allem im Türbereich. Wer aussteigen will, muss einen schwarz-gelben Irrgarten durchqueren. Sonja Schulz, eine zierliche Mitreisende mit drei Koffern und null Spielplänen, fragt besorgt: »Wann steigt ihr wieder aus?« Sie ist gerade am Düsseldorfer Flughafen gelandet, unverhofft in das Gedränge geraten. Der moderne Schlachtenbummler steht gelassen im Gang, hält sich an der Gepäckaufbewahrung fest und lauscht dem monotonen Geräusch über den Boden rollender Bierflaschen. Wenn gesprochen wird, dann über die richtige Trinktemperatur. Wo getrunken wird, fallen Grenzen, wird gerülpst. Das lauteste je auf Tonband aufgezeichnete Bäuerchen liegt bei 118,1 Dezibel. Zwischen Bochum und Dortmund gehen einige Fans auf Weltrekordjagd, allerdings ist gerade kein Tonband griffbereit. Gesungen wird erst später.

Sa | 12:55 Uhr | Dortmund Hbf | Bahnsteig 8

Die Fans verlassen die Bahn durch die Mundlöcher, wie man das in der Bergmannssprache nennt. Sie werden regelrecht ausgespuckt. Die Masse bewegt sich jetzt sehr gezielt auf die Treppe zu. Es dauert keine drei Minuten, bis sich eine komplette Bahnladung in die Bahnhofshalle ergossen hat. Hegemonialansprüche werden ab diesem Zeitpunkt weniger zaghaft formuliert. Die Dortmunder rufen beim Treppenhinabsteigen: »Die Nummer eins im Pott sind wir.« Wenn eine Bahn in dieser entscheidenden Phase nur zehn Minuten hinter dem Fahrplan liegt, ist das eine logistische Meisterleistung. Beschwerden gebe es zwar nach jedem Spiel, erzählt Bernd Winkelmann, Pressesprecher des lokalen Unternehmens DSW21. »Die Fans können die Dimension aber gar nicht abschätzen«, sagt er, »wir bewegen an jedem Spieltag eine Kleinstadt.«

Sa | 13:10 Uhr | RB 59 nach Soest

Auch beliebt: Mit dem Bus vom Bahnhof aus zum Auswärtsspiel. Foto:  Stephan Eickershoff
Auch beliebt: Mit dem Bus vom Bahnhof aus zum Auswärtsspiel. Foto: Stephan Eickershoff © WAZ

Die zehn Mitglieder der »Grafschaft Schwarz-Gelb« steigen zu, blaublütig ist keiner von ihnen. Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder, mag die Großmutter gedacht haben, die mit ihrer Enkelin unterwegs ist. Erste Zweifel beschleichen sie, als das angebliche Grafengeschlecht die Bordtoilette bei offener Tür benutzt, immer zwei Mann gleichzeitig. Was nach dem gemeinschaftlichen Urinieren folgt, ist eine Sonderausgabe der volkstümlichen Hitparade, allerdings ohne Florian Silbereisen und ohne 1. FC Köln. Der beliebteste Schlager: »Wir füllen unser Schwimmbad mit dem Blut von S 04 /

Und singen: Ihr seid ein großer Haufen Scheiße / Tod und Hass dem S 04!« Die in Ehren ergraute Dame, die sich anfänglich wie ein Schutzwall zwischen Sängerkreis und Schutzbefohlene gestellt hatte, greift endgültig zur Notbremse, allerdings nur zur verbalen. Sie sagt zu ihrer Enkelin: »Schnell, halt dir die Ohren zu!« Die Bundespolizei macht Ernst, hält einen jugendlichen Trinker fest. Der entschuldigt sich unüberhörbar, dass er und seine Kumpels den Spieltag halt um sechs Uhr morgens begonnen hätten, begleitet von der neuen Ballermann-Hymne. Das angesagte Genre heißt: Atzenmusik. Während der Schutzmann seine Personalien überprüft, rezitiert der Delinquent standhaft: »Hey, das geht ab / Wir feiern die ganze Nacht«.

Sa | 13:55 Uhr | RB 59 | zurück nach Dortmund Hbf

In diese Richtung fährt um diese Uhrzeit keiner mehr, alle Fahrgäste sind am Dortmunder Stadion ausgestiegen. Nur ein paar Flaschensammler laufen durch die Bahn, befüllen ihre riesigen Plastiktaschen. Sie stürmen die leeren Bahnabteile, balgen um jedes einzelne Glasgefäß. 40 Euro, sagt einer, verdiene er pro Heimspiel. Die Sammler zerstören herrliche Skulpturen aus Flaschenglas und Weißblech. Die Miniatur-Mülleimer am Platz haben längst kapituliert. Der Geruch von schalem Bier macht sich breit, der Bahnboden klebt nachhaltig. Eine Überraschung, dass die Oberlichter unversehrt sind: Bis vor ein paar Monaten gab es in Dortmund den Brauch, auf Zuruf kollektiv die Lampen zu zerstören. Hinterher riefen die Fans immer: »Dunkelkammer, Dunkelkammer«.

Sa | 14:15 Uhr | Zugang zur U 45

109 Fahrzeuge und 120 ÖPNV-Mitarbeiter sind heute im Einsatz. Es hat in den letzten Jahren nur einen Super-GAU gegeben. Kurz nach der Winterpause war die Oberleitung gerissen, unmittelbar vor dem Stadion. 20 000 Menschen standen in der Kälte. Pressesprecher Winkelmann erinnert sich: »Wir haben 45 Minuten gebraucht, um das zu flicken.« Das interne Ziel lautet, die Fans pünktlich zur Sportschau nach Hause zu befördern. Um 20 Uhr rollt im Idealfall die letzte Einsatzbahn: zurück in die Werkstatt. Wer es auf die harte Tour mag, nimmt in Dortmund die U-Bahn. Schon der lange Marsch durch den Tunnel mit seinen orangen und blauen Kacheln ist ein gepflasterter Fahrstuhl zum Schafott. Seitlich hängen Werbeplakate für die Sportschau, die Grünen und die Zauberflöte, am Ausgang »Innenstadt-Nord« drängeln die Menschen, als würde wieder Begrüßungsgeld ausgegeben. Nur jeweils eine Person kommt hier auf einmal durch das Nadelöhr. Den Eingang zur Unterwelt bewacht nicht Kerberos, sondern ein groß gewachsener Mann mit einem Headset. Er hat an diesem Spieltag schon sehr viele Kinder über die Sperre gehoben, sein blaues Hemd ist komplett durchgeschwitzt. Der Geruch von Schweiß lässt sich nun nicht mehr ignorieren. Wer sich mit beherztem Ellbogeneinsatz bis hierhin durchgeschlagen hat, dünstet zwangsläufig nichts Gutes aus. Eine junge Frau verzieht das Gesicht, als sie den Menschenauflauf erblickt. Man möchte ihr zurufen: Gnädigste, es ist wirklich keine gute Idee, jetzt eine Yucca-Palme transportieren zu wollen.

Sa | 14:50 Uhr | U 45 Richtung »Stadion«

Bogestras Schalke-Bahn. Foto: Martin Möller
Bogestras Schalke-Bahn. Foto: Martin Möller © WAZ

Die U-Bahn ist auf dem Weg, keiner kann mehr umfallen. Warum sich trotzdem einige festhalten, ist rätselhaft. Unmöglich, mehr Menschen in diesen Stahlkäfig zu zwängen. Die Betriebstemperatur steigt von Minute zu Minute, das Fräulein vom Band verhallt ungehört. Atzenmusik trifft Achselhöhle. Die körperliche Extremsituation führt dazu, dass die Einwohner der Stadt Köln auf ihre Qualitäten in der gleichgeschlechtlichen Liebe reduziert werden. »Schwuuuler, schwuuuler, FC Köln.« Die Gäste antworten keinesfalls ähnlich banal oder gar fäkal, sondern rufen geistesgegenwärtig »CSD, CSD«. Dabei wird das Material einer Belastungsprobe unterzogen, ein stumpfes Stakkato begleitet die Schlachtrufe: unzählige Fäuste hämmern mit voller Kraft gegen die Bahnverkleidung. Wer aussteigt und überlebt hat, kann sich sofort für die Sauna-WM in Finnland anmelden.

Sa | 17:25 Uhr | Haltestelle »Stadion«

Dortmund hat 1:0 gewonnen. Es ist nicht zu überhören, dass die Mannschaft gerade die Welle mit der Südtribüne praktiziert. Etwa 24 454 von 78 200 Zuschauern sind also noch im Stadion. Wer schon draußen ist, spricht mit DSW21-Mitarbeitern, die kopierte Zettel in Klarsichthüllen mit sich herumtragen. Was den Profis ihr »Entmüdungsbecken« ist, ist für die Fans der »Entlastungszug«. Gewartet wird mit derselben Gelassenheit, mit der schon die Schwitzkur hinzu bewältigt wurde. Trikotträger sitzen auf Bierkästen, auf der Mauer und auf dem Boden. Um viertel vor sechs muss ein Mann mit schwarzer Kappe, oranger Warnweste und Handschuhen die Kundschaft sanft in die Bahn schieben, wie man das eigentlich nur aus Tokio kennt. Die externe Hilfestellung ist erfolgreich: Die Tür schließt sich endlich, im vierten Versuch.

Der zweite Teil von Alkohol, Achselhöhlen und Atzenmusik erscheint am Montag!

Von Thorsten Schaar.

Erschienen bei 11Freunde, Heft #94 (http://www.11freunde.de/)