Er ist einer der Charakterköpfe der Bundesligageschichte: Michael "Ata" Lameck. Thomas Kempe ging bei Bochums Abwehr-Monument in die Lehre und erzählt im Interview, was einen Führungsspieler und Charakterkopf ausmacht.

Thomas Kempe, was ist für Sie ein Führungsspieler?

Thomas Kempe: Das erklärt sich ja im Namen: Einer, der eine Mannschaft führen kann. Normalerweise ist das ein Spieler, der schon etwas älter ist, der einen großen Erfahrungsschatz hat. Ein 19- oder 20- Jähriger kann demnach kaum eine Mannschaft führen. Zumindest war das damals so, in den 80er Jahren. Aber heute ist ja vieles anders.

Herr Kempe, Sie spielten beim MSV Duisburg, in Stuttgart und beim VfL Bochum. Gab es in den Teams jeweils diesen einen Führungsspieler?

Kempe: Nein. Die Verantwortung wurde immer auf mehrere Schultern verteilt. Als ich nach Bochum kam, war zunächst einer von vielen, später wurde ich eine Art Führungsspieler. Doch diese Rolle fiel mir ja nicht vor die Füße, die musste ich mir erarbeiten. Und irgendwann spürte ich, dass der Trainer und das Umfeld erwarteten, dass ich diese Rolle übernehmen sollte.

Ist ein Führungsspieler per Definition eigentlich immer laut?

Kempe: Auf jeden Fall. Das typische Beispiel in Bochum war Ata Lameck. Der hat 90 Minuten ununterbrochen geredet. Aber auf den hast du ja auch gehört, Lameck hat über 500 Bundesligaspiele gemacht. Da kam jedenfalls kein Jungspund von der Seite und redete dem ins Wort. Wenn Ata was gesagt hat, dann wurde das gemacht. Aber es gab noch andere Leader im Team, etwa Jupp Tenhagen oder Lothar Woelk. Und irgendwann auch mich.

Gibt es diesen Typ »Führungsspieler« von damals heute überhaupt noch?

Kempe: Eher nicht. Denn heute gibt es kaum noch Spieler, die länger als drei oder vier Jahre bei einem Verein spielen. Das war damals anders: Tenhagen spielte zwölf Jahre beim VfL, ich war acht Jahre dort. Wir konnten uns wirklich mit dem Verein identifizieren. Zudem, und das war immens wichtig, um diese Rolle des Führungsspielers ausfüllen zu können, identifizierten sich die Fans mit uns – einfach, weil wir alles für die Mannschaft taten. Jetzt gerade ist Marcell Jansen nach einem Jahr und zwölf Spielen zum HSV gewechselt. Ich finde, das wirkt wie eine Flucht. Da sah man überhaupt keine Motivation mehr: Der hätte versuchen sollen sich durchzubeißen, zu kämpfen.

Finden Sie, dass Mark van Bommel oder David Jarolim Führungsspieler sind? Beide sind Kapitäne ihrer Team, beide fielen aber in der Vergangenheit immer wieder durch Undiszipliniertheiten auf.

Kempe: Ach, das ist doch alles nicht so wild gewesen. Ich bin ja auch häufiger auffällig geworden. (lacht) Ich habe eben stets gesagt, was ich gedacht habe. Wenn einer Mist gespielt hat, dann hab ich dem das auch gesagt. Auch wenn das manchmal nicht so gut ankam. Aber was soll man denn die ganze Zeit um den heißen Brei reden. Heute ist das nicht mehr ganz so einfach, denn heute lassen sich die jungen Spieler kaum noch was sagen: Ein Lahm wird sich jedenfalls nicht von einem Mark van Bommel zusammenfalten lassen. Der wird dem einen Vogel zeigen und sagen: »Watt willst du denn? Ich bin Vize-Europameister. Und du?«

Die Hierarchien waren früher klarer abgesteckt?

Kempe: Auf jeden Fall. Wenn Lameck oder ich den Jüngeren was gesagt haben, dann nahmen die aber ihre Beine in die Hand. Heute brauchst du ja nur zehn Bundesligaspiele vorzuweisen und du denkst, du wärst ein Großer. Früher nannten sich die Spieler erst Bundesligaspieler, wenn sie mindestens 200 Spiele auf dem Buckel hatten. Und bei 300 Bundesligaspiele wussten die Leute: Das ist ein Guter. Der Respekt war früher ein ganz anderer. Sie müssen sich das mal vorstellen: Ein Klaus Fischer, ein Lameck, die hatten über 500 Bundesligaspiele. Schon diese Zahl flösste unglaublichen Respekt ein.

Sie fingen als 20-Jähriger bei den Profis des MSV Duisburg an. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Training?

THomas Kempe vermisst Oliver Kahn. Foto: ddp
THomas Kempe vermisst Oliver Kahn. Foto: ddp © ddp

Kempe: Ich war zwar selbstbewusst, aber ich wusste, was es heißt, plötzlich bei den Profis zu trainieren, mit meinen ganzen alten Helden. Ich musste mich erstmal hinten anstellen. Aber das war vollkommen okay. Wenn damals Bernhard Dietz oder Kurt Jara was zu mir gesagt haben, dann habe ich gekuscht. Da wurde nicht groß diskutiert. Heute denken die 17- oder 18-jährigen Kids, die vielleicht durch Zufall mal in der ersten Mannschaft trainieren dürfen, sie wären Weltklassespieler. Viele bemühen sich ja auch gar nicht mehr, sich weiterzuentwickeln, die wollen sich gar nicht mehr integrieren, sondern ruhen sich auf ihrem Grundgehalt aus.

Nach Bochum kamen Sie als gestandener Spieler. Sie waren mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister geworden. Plötzlich waren Sie Führungsspieler.

Kempe: Aber nicht sofort. Es gab dort auch noch Spieler, zu denen ich aufschaute, etwa Jupp Tenhagen, den ich noch von zahlreichen Bundesligaspielen zuvor kanne. Der Jupp war anfangs eine Art väterlicher Freund, später waren wir auf Augenhöhe. Als der mich nach einer Verletzung im Krankenhaus besucht hat, wusste ich: Wir sind auf einem Level. Das war ein ganz anderes Gefühl als in Duisburg. Als ich mich dort einmal verletzte, ließ sich eine Woche lang niemand blicken. Da merkte ich schon: Ich bin noch am Anfang, ich bin noch jung, habe mir noch nichts erarbeitet. Gar nichts.

Vermissen Sie heute echte Führungsspieler?

Kempe: Ja. Doch wer soll heute wirklich in diese Rolle schlüpfen? Der eine Spieler kommt aus Serbien oder Polen, der andere aus Brasilien oder Ungarn. Wie sollen die miteinander reden? Wie soll man denen die Hierarchien erklären? Nehmen wir zum Beispiel mal Marcelo Bordon: Das ist ja durchaus eine Führungspersönlichkeit. Doch dazwischen haut der auch nicht. Kann er gar nicht. Ich vermisse heute diese vielzitierten Typen, Spieler wie Frank Rost, die mal auf den Putz hauen. Ich vermisse Oliver Kahn.

von Andreas Bock

Erschienen am 19. Dezember 2008 bei 11Freunde.de und im Heft # 86