Essen. 2006 feierte Deutschland das Sommermärchen. Im Tor stand Jens Lehmann. Im Interview spricht er über das Turnier. Er lobt Trainer Jürgen Klinsmann.

  • 2006 feierte Deutschland das Sommermärchen.
  • Im Tor stand Jens Lehmann.
  • Im Interview spricht er über das Turnier.

Jens Lehmann fährt zum Training. Freizeit-Fußball. Der ehemalige Nationalspieler, englische und deutsche Meister tritt nur noch mit Freunden vor den Ball. Auf dem Weg zum Platz bleibt Zeit für ein Telefonat. Zeit, über das deutsche Sommermärchen zu sprechen. Vor zehn Jahren feierte ganz Deutschland die Fußball-Weltmeisterschaft. Lehmann stand im Tor der Nationalelf. Das Duell mit Bayerns Oliver Kahn hatte er gewonnen, Trainer Jürgen Klinsmann vertraute dem damaligen Torhüter vom FC Arsenal.

„Oh, jetzt habe ich mich verfahren“, sagt Lehmann plötzlich. Unsere Fragen hat er trotzdem beantwortet.

Waren sie 2006 besser als Oliver Kahn?

Jens Lehmann: Ein halbes Jahr, nachdem der Zweikampf von Jürgen Klinsmann eröffnet wurde, habe ich zehn Spiele bei Arsenal gar nicht gespielt. Da war ich sehr weit weg, die Nummer eins zu werden. Dann habe ich mein Training umgestellt, ich habe angefangen zu meditieren. Dadurch habe ich ein Niveau spielen können, was technisch, mental und unter Druck so gut war, wie ich es noch nie gespielt habe. Ich habe mit Arsenal den englischen Pokal gewonnen, ich habe in der Champions League kein Tor bekommen.

Also waren sie besser?

Jens Lehmann: Ich habe ohne Fehler gespielt. Und das mit höchstem Risiko und unter höchstem Druck. Das Gute war, dass Oliver Kahn das gemerkt hat und diesem Druck nicht mehr standhalten konnte. Ich musste spielen. Es sei denn, Klinsmann wäre sich nicht treu geblieben.

Wie haben sie sich gefühlt, als sie mitgeteilt bekommen haben, dass Sie im Tor stehen werden?

Jens Lehmann: Als ich die Nachrichten bekommen habe, wäre die Nachricht, wenn sie negativ ausgefallen wäre, eine größere Überraschung gewesen. Wenn ich nicht gespielt hätte, das wäre nicht gegangen.

Vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Argentinien hat Oliver Kahn Ihnen Glück gewünscht.

Jens Lehmann: Das war nett, aber ich habe das in den Turnieren vorher auch gemacht.

Das Elfmeterschießen gewann Deutschland. Sie waren der Held. Auch weil Sie beim Schießen immer wieder auf einen Spickzettel schauten. Warum?

Jens Lehmann: Als Huub Stevens zum FC Schalke 04 kam, hat er mir gezeigt, dass man sich auf das Elfmeterschießen auch möglichst gut vorbereiten kann. Ich hatte zu jedem Elfmeterschießen einen Zettel dabei. So habe ich kein Elfmeterschießen verloren. Den Zettel habe ich morgens mit Torwarttrainer Andi Köpke geschrieben, darauf stand, wohin die Schützen vermutlich schießen werden. Ich habe diesen Zettel dann mit ins Tor genommen, weil ich mich wahrscheinlich nicht mehr so gut daran erinnern konnte, was ich morgens aufgeschrieben habe.

Aber Sie haben die Schützen auch irritiert.

Jens Lehmann: Ich habe große Hände und Torwart-Handschuhe an. Ich habe null erwartet, dass die Spieler das sehen. Ich habe den Zettel nicht nach oben gehalten. Ich weiß nicht, ob die Spieler das gesehen haben.

Spätestens nach dem Sieg gegen Argentinien war ganz Deutschland im WM-Fieber. Warum hat Ihre Mannschaft so begeistert?

Jens Lehmann: Wir sind als Team aufgetreten. Und es war auch die Spielweise. In den Turnieren vorher haben wir auf die Fehler der anderen gewartet. 2006 war es der Beginn einer offensiven Spielweise, mutig und herzerfrischend. Wir wollten nach vorne spielen.

War dies Jürgen Klinsmanns Verdienst?

Jens Lehmann: Der Jürgen war hart, aber klar. Uns allen hat es Respekt abgenötigt, dass er sich von den Medien nicht hat leiten lassen. Er hat alle schwierigen Entscheidungen alleine getroffen, kein anderer. Er hat mit seinem Konzept die Basis auch für die weiteren Turniere gelegt.

Bundestrainer Joachim Löw war Co-Trainer. Wie war seine Rolle?

Jens Lehmann: Ich denke, dass auch Jögi Löw sehr dankbar ist, dass Jürgen ihn als Co-Trainer ausgewählt hat. Auch Jogi hat damals eine Menge gelernt.

Wie haben Sie die Stimmung in Deutschland erlebt?

Jens Lehmann: Der Direktor des Hauses der Geschichte in Bonn hat mir erzählt, dass es immer zwei Generationen braucht, um tragische Ereignisse zu überwinden. Und es war genau der Zeitpunkt 2006, nach dem zweiten Weltkrieg, zu dem das Land wieder Patriotismus zeigen konnte. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als Patriotismus peinlich war und wir auch nicht als Patrioten erzogen wurden.

Also war die WM 2006 für Deutschland sehr wichtig?

Jens Lehmann: Die Menschen haben der Welt gezeigt: Wir sind weltoffen, wir sind tolerant. Ich habe damals in London mit 15 Nationalitäten gespielt. Der Thierry Henry hat mir damals gesagt, dass es Wahnsinn für ihn war, wie euphorisch die Deutschen der französischen Nationalmannschaft zugejubelt haben.

Jens Lehmann über das bittere Aus gegen Italien im WM-Halbfinale 

Was haben Sie gedacht, als Alessandro Del Piero im Halbfinale das 2:0 für Italien geschossen hat?

Jens Lehmann: Da habe ich nicht viel gedacht, da denkt man nicht viel. Da denkt man: Mist.

Die deutsche Nationalmannschaft war 2006 kein Favorit auf den Titel. Das Halbfinale war schon ein Erfolg. Wie haben Sie sich nach dem verpassten Finale gefühlt?

Jens Lehmann: Die Enttäuschung hat überwogen. Wir haben die Stimmung im Land zwar mitbekommen, aber wir haben nicht gesagt, wir machen jetzt hier ein Sommermärchen. Wir wollten guten Fußball spielen. Und dazu gehörte, dass wir ins Finale wollten. Unmittelbar nach dem Spiel, als ich in der Kabine saß, habe ich mich erstmal gefragt: Was habe ich falsch gemacht? Was haben wir falsch gemacht?

Und, was haben Sie falsch gemacht?

Jens Lehmann: Ich glaube, in dem Italien-Spiel wurde nicht viel falsch gemacht. Wir haben gegen den späteren Weltmeister fast 120 Minuten zu Null spielt. Es war nicht so, dass wir 120 Minuten gezittert haben, sondern wir haben den Leuten auch Hoffnung mit guten Angriffen gemacht.

Jens Lehmann kritisiert Schalke-Torwart Ralf Fährmann 

Die aktuelle deutsche Nummer eins, Manuel Neuer, hat keinen echten Konkurrenten. Ist das ein Nachteil?

Jens Lehmann: Ja. Ich finde es bei ihm ein bisschen schade. Er ist den anderen schon weit voraus und ich glaube, dass er sein Potential noch mal um einiges steigern könnte, wenn er einen Konkurrenten hätte.

Gibt es einen möglichen Kandidaten, der Manuel Neuer gefährlich werden könnte?

Jens Lehmann: Absehbar nicht. Ich hatte gedacht, Schalkes Ralf Fährmann könnte ein Konkurrent sein. Aber er ist wohl im Kopf nicht in der Lage, sich selbst in diese Sphäre zu bringen.

Müsste Ralf Fährmann im aktuellen EM-Kader stehen?

Jens Lehmann: Fährmann hätte es von seinem Können her auch verdient. Aber er scheint immer so negativ zu denken, dass er das wohl nicht schaffen wird, Konkurrent zu sein.