Essen. Ob das Sommermärchen von 2006 vielleicht gekauft wurde, wird entsetzt gefragt. Antwort: Allenfalls die WM könnte gekauft worden sein. Ein Kommentar.
Vor neun Jahren erlebte Dortmund das lauteste Länderspiel der deutschen Fußball-Geschichte. Die Dramaturgie des späten 1:0 gegen Polen im zweiten Vorrundenspiel der Weltmeisterschaft 2006 versetzte das Land in einen Rausch. Es tanzte, tobte, taumelte – vor Freude. Oliver Neuvilles Tor in der Nachspielzeit hatte die Wirkung einer flächendeckend verabreichten Glücksdroge: Auf den Rängen, auf den Fanmeilen, auf den Straßen klangen Anfeuerung und Gesang nicht mehr so grausig wie das dumpfe „Sieg!“-Gebrüll, das die deutsche Nationalmannschaft 1990 auf ihrem Weg zum WM-Titel begleitet hatte. 2006 erfand sich Deutschland neu, 2006 machte Deutschland auf südländisch.
2006 war Schwarz-Rot-Gold plötzlich erlaubt
Unbekümmert standen die Leute zu ihrer Fußballmannschaft – mit all der nationalen Symbolik, die anderen Ländern nie fremd war. Jahrelang hatte man zuvor bei Länderspielen zwischen den Niederlanden und Deutschland auf der einen Seite eine Wand in Orange und auf der anderen ein Sammelsurium aus Vereinstrikots gesehen. 2006 war Schwarz-Rot-Gold plötzlich erlaubt.
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Deutschland einig Fußballland. Ein harmloser, unbedrohlicher Patriotismus verbreitete sich zwischen St. Peter-Ording und Reit im Winkl, und die Welt sah staunend zu: Kaum zu glauben – sie können tatsächlich fröhlich sein, diese steifen, peniblen, humorlosen Deutschen.
Jene unvergessenen Wochen firmieren seitdem unter dem Begriff Sommermärchen. Das Sommermärchen hatten eine leidenschaftlich spielende Mannschaft, ein einsichtiger Wettergott und vor allem die Menschen in diesem Land inszeniert. Wer nun entrüstet beklagt, das Sommermärchen sei mutmaßlich gekauft worden, der verwechselt etwas. Das WM-Turnier mag vielleicht auf schmierige, auf verabscheuungswürdige Weise nach Deutschland gelangt sein, das Sommermärchen aber war unbezahlbar.