Edmonton. . Passenderweise rettet ein Elfmetertor von Christine Sinclair gegen China den Kanadierinnen den WM-Auftakt. Anders als einst Birgit Prinz scheint die Grand Dame des kanadischen Frauenfußballs die Last der Erwartungen zu schultern.

Vermutlich wird Christine Sinclair irgendwann selbst erschrecken, wenn sie diese Bilder von sich selbst betrachtet. Die Arme waagerecht von sich gestreckt, die Hände zu Fäusten geballt, die Mundwinkel nach unten gezogen. Irgendwo musste die Freude ja hin, wenn so viel Ballast abfällt. Es war nicht irgendein Elfmeter, den die lebende Legende des kanadischen Frauenfußballs im Commonwealth Stadium von Edmonton verwandelte. Wie bei der Inszenierung eines kitschigen Hollywood-Streifens hob sich das Eröffnungsspiel zwischen Kanada und China (1:0) seinen dramaturgischen Hauptakt bis zum Schluss auf.

Wie bei Andreas Brehme 1990

Vermutlich bekommen nur WM-Gastgeber solch einen Strafstoß: In der Nachspielzeit war die Kanadierin Adriana Leon in den ausgestreckten Arm von Rong Zhao gerannt. Doch Trainer John Herdman redete lieber darüber, was danach geschah. „Ich wusste, dass es nur eine Frau gab, die in der 90. Minuten antreten und es wie immer klar machen würde – und sie hat es getan.“ Sein anschließender Jubel war dem James-Dean-Verschnitt hinterher beinahe peinlich. „Es ist wahrscheinlich noch nie vorgekommen, dass ein Trainer auf eine Spielerin springt. Glücklicherweise wiege ich nur 60 Kilo.“ Und glücklicherweise misst Sinclair immerhin 1,76 Meter.

Wie die kanadische Kapitänin ihr 154. Länderspieltor erzielte, erinnerte an Andreas Brehme beim Elfmeter im WM-Finale 1990 gegen Argentinien. Fast 54 000 Zuschauer hielten den Atem an, als sie den Ball flach und präzise in die linke Ecke neben dem Innenpfosten über die Linie brachte. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht nervös war“, räumte die Matchwinnerin später ein. „Dann habe ich mich daran erinnert, dass ich im Januar schon einen Elfmeter gegen China ausgeführt habe.“ Für sie, die in einer Woche 32 Jahre alt wird, schloss sich noch ein zweiter Kreis. Sie war erst 16, als sie einst gegen China ihr erstes Länderspiel bestritt. Mittlerweile ist sie bei 224 Einsätzen angelangt, und noch ist kein Ende in Sicht.

Allürenfreies Vorbild

Wie Christine Sinclair mit geduckter Haltung bisweilen den Ball nach vorne treibt und sich einfach nicht aufhalten lassen will, das erinnert bisweilen an den Stil von Birgit Prinz in ihren besten Jahren. Doch während die deutsche Rekordtorschützin 2011 unwürdig von der WM-Bühne schied, scheint die kanadische Rekordspielerin 2015 die Last der Erwartungen schultern zu können. Und die sind nicht eben gering. Als „Christine’s World Cup“ umschreibt die „Ottawa Sun“ eine Weltmeisterschaft, bei der sich vieles nur um diese Vorzeigefrau dreht.

Die aus Burnaby stammende Fußballerin wird gerne als Vorbild inszeniert, weil sie auch außerhalb des Platzes allürenfrei auftritt. Zu ihren vielen Auszeichnungen gehört 2012 der Lou-Marsh-Award als Kanadas Sportler des Jahres, weil ihre sechs Tore bei den Olympischen Spielen in London zu Bronze verholfen hatten. Jetzt ist die Mission ungleich größer. „Nicht viele Athleten bekommen in ihrem Leben die Chance, eine WM in der Heimat zu spielen“, sagt Sinclair. „Ich bin stolz darauf, dass wir den Kids zeigen, dass eines Tages Träume in Erfüllung gehen können.“ Dann bricht eben alles raus.