Kiel. . Nach 36 Jahren sind Kiels Fußballer wieder zweitklassig - und sogar Spitzenreiter. Was macht der Klub um Trainer Anfang besser als Bochum?

Wie ein Versprechen ruht die Kogge des Weihnachtswichtels Kilian über dem Kieler Marktplatz. Dreimal täglich fährt das Schiff in 40 Meter Höhe von einem Seil getragen zum Turm des Rathauses, vorbei an Jakob Schleifers Karussell, vorbei am skandinavischen Glögg Hus, an der Fischkate und an Schlüters Alpentraum. Die Menschen recken die Köpfe nach oben und staunen. Für sie ist das ein kleines Weihnachtswunder.

Für den Rest der Fußball-Republik ist das, was gerade in Kiel passiert, auch ein Wunder. Im Ruhrgebiet, in Bochum und Duisburg, fragen sie sich: Was machen sie da an der Ostsee nur besser als wir? Nach 36 Jahren spielt Holstein Kiel wieder in der Zweiten Liga – der Aufsteiger ist vor dem Topspiel gegen den Tabellenzweiten Fortuna Düsseldorf am Samstag (13 Uhr/Sky) sogar Spitzenreiter.

Am Steenbeker Weg 150 denkt man anders darüber. „Das haben wir uns erarbeitet. Das haben wir nicht geschenkt bekommen“, sagt Markus Anfang. Der gebürtige Kölner ist der Kilian von Holstein Kiel. Er brachte das Wunder in die Stadt.

Familienklub mit Tradition

Graue Wolken hängen über dem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ). Markus Anfang steht im nordischen Nieselregen und beobachtet seine Spieler. Ein paar Fans gucken zu, binden sich die Kapuzen um oder spannen den Schirm auf. Das bisschen Wasser hält die Liebe nicht auf. Kurz vor Schluss verletzt sich Kingsley Schindler am Bein. Markus Anfang streift sich ein Leibchen über und ersetzt ihn.

Holsteins Trainer Markus Anfang.
Holsteins Trainer Markus Anfang. © Thomas Frey

„Es ist ein sehr familiärer Klub” sagt der 43-Jährige frisch geduscht. Die Wege im NLZ, wo Profis und Junioren trainieren, seien kurz. „Wir sind etwas kleiner aufgestellt. Aber der Verein wächst.” Einige träumen schon vom Aufstieg. „Wir versuchen unsere Spiele danach zu beurteilen, wie wir gespielt haben, nicht, wie das Ergebnis ist“, sagt Anfang. „Unser Ziel ist klar, eine gute Saison zu spielen. Wenn ich das Ziel habe, nicht abzusteigen, versuche ich etwas zu verhindern. Wir wollten nichts verhindern.“

Sportchef Becker holte Anfang

Als Anfang im August 2016 übernahm, sah das anders aus. Platz 14 nach vier Spielen, das war nicht genug. Sportchef Ralf Becker ersetzte Karsten Neitzel durch Anfang, den er aus gemeinsamen Zeiten bei Bayer Leverkusen kannte. Der Ex-Profi von Fortuna Düsseldorf, des FC Schalke 04 und MSV Duisburg war gerade erst mit Leverkusens U17 Meister geworden. Aber Cheftrainer eines Drittligisten?

„Markus Anfang hat sein Konzept mit viel Ballbesitz und eingestreuten langen Pässen sowie variablem Pressing konsequent praktiziert“, sagt einer, der es wissen muss. Thomas Pfeiffer ist seit 1992 Sportredakteur der Kieler Nachrichten. „Damit hat er die Gegner in der Dritten Liga überrascht, und das funktioniert jetzt noch.“

„Hier steckt Herzblut drin“

Der Erfolg elektrisiert Kiel. Bei Heimspielen ist das Holstein-Stadion mit rund 12 000 Plätzen ausverkauft. Martin Winkhaus kennt andere Zeiten. Vor sieben Jahren besuchte der Holstein-Fan sein erstes Spiel, da waren es 1000 Zuschauer. DFB-Pokal gegen Hansa Rostock – Endstand 0:2. „Das hat nichts zur Sache getan“, erinnert sich der heute 32-Jährige. „Die Fans haben trotzdem gefeiert.”

Hartgesottene Fans kommen auch, wenn es regnet. Und das ist in Kiel im Winter fast immer der Fall.
Hartgesottene Fans kommen auch, wenn es regnet. Und das ist in Kiel im Winter fast immer der Fall. © lo

Winkhaus ist seit Mai 2014 Fanbeauftragter, macht eine Ausbildung beim Verein. Am Anfang putzte er die Sitzschalen für freien Eintritt. „Die Menschen stecken hier sehr viel Herzblut rein”, sagt er. Holstein sei ein Familien-Klub – „und bereit für mehr.“

Wenn Kilian in seiner Kogge über den Köpfen der Marktbesucher seine Bahn zieht, verfehlt er den Rathausbalkon um ein paar Meter. Der Weihnachtswichtel kann nur einen kurzen Blick auf die Empore der Sieger werfen, für die Handball-Rekordmeister THW Kiel eine Dauerkarte hatte. Seit der vergangenen Saison wissen nun auch die Fußballer, wie es sich anfühlt, da oben zu stehen.

Dass es dazu kam, ist nicht nur Resultat aus Lust und Leidenschaft. Gerhard Lütje und Hermann Langness, zwei Kieler Unternehmer, engagieren sich seit 2000, haben auch das NLZ mit sechs Plätzen aufgebaut. Erstligareif, finden Beobachter. Und die Mannschaft? „Bis auf Christopher Lenz und Manuel Janzer hat sich bislang keiner ernsthaft verletzt. Die wichtigsten Akteure spielen fast immer durch“ sagt Thomas Pfeiffer. Für Torjäger Marvin Ducksch, Innenverteidiger Dominik Schmidt oder Kapitän Rafael Czichos gebe es keinen wirklichen Einsatz.

Stadion zu klein für Liga zwei

So wie der Kader ist auch das Stadion zu klein. Der Deutsche Meister von 1912 muss nachbessern und auf 15 000 Plätze kommen – nur für Liga zwei. Auch eine Fanmeile gibt es noch nicht. Höchstens ein paar fußballaffine Kneipen. Eine davon liegt etwas abseits des Hauptbahnhofs. Der Wirt spielt mit einem der zwei Gäste Dart. Aus den Lautsprechern plätschert ein Mix aus Santiago und Deep Purple. Unter dem Flachbildschirm neben den Spielautomaten hängt ein Spielplan der 2. Liga. Am Samstag halte er natürlich mit Kiel, sagt der Wirt. „Wir sind in Schleswig-Holstein. Wir sind Störche.“