Essen. Laut Doping-Studie der Berliner Humboldt-Universität wurde auch im deutschen Spitzenfußball gedopt. Unter anderem stehen die deutsche Nationalmannschaft von 1954 und Borussia Dortmund unter Trainer Max Merkel unter Verdacht. Der Abschlussbericht der Studie wurde am Montag veröffentlicht.
Es ranken sich ja so einige Legenden um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die 1954 in der Schweiz Weltmeister wurde. So heißt es unter anderem, die Herbergers Wunderwirker wären im Finale topfitgespritzt gewesen. Dass es entsprechende Kanülen in der Kabine gab, wird nicht dementiert. Strittig ist allerdings deren Inhalt.
Er ist, wie so viel Strittiges, Gegenstand der Doping-Studie der Berliner Humboldt-Universität, die dieser Tage für Aufsehen sorgt. Demnach, so berichtet die Süddeutsche Zeitung (SZ), der die Studie vorliegt, sei auch die Geschichte des deutschen Fußballs alles andere als unverdächtig. Genauso wie das Mittel in den Spritzen der WM-Helden von Bern, in der romantischen Version der Legende schlichtes Vitamin C.
BVB-Coach Merkel soll Doping eingefordert haben
Der Missbrauch von Substanzen aus der Gruppe der Amphetamine sei im Leistungsfußball schon in den 1940er-Jahren verbreitet gewesen, heißt es in der SZ. Es gebe Indizien dafür, dass Fritz Walter und Co. ihre Finalform dank des Aufputschmittels Pervitin erreichten. Ebenso gibt es laut SZ belastende Informationen gegen die deutschen Nationalteams von 1966 und 1974. Die Forscher der Humboldt-Universität monierten zudem, dass ihnen der DFB den Zugang zum Verbands-Archiv erschwerte.
Explizit wird im SZ-Bericht auch die BVB-Mannschaft von 1961 genannt. Trainer Max Merkel habe seine Spieler zum Doping aufgefordert. Der damalige Dortmunder Hoppy Kurrat dementierte dies am Montag gegenüber WAZ.de: „Merkel hat uns im Trainingslager in der Sportschule Kaiserau zum Frühstück ein Glas Rotwein mit einem Eigelb und einer Traubenzucker-Tablette gegeben – und dann hat er uns zum Laufen geschickt.“
Doping-Praktiken in der Bundesliga wurden schon von Kult-Keeper Toni Schumacher beschrieben. In seinem Buch "Anpfiff" schildert der Ex-Nationaltorhüter diverse Szenen, in denen Mannschaftskollegen und er selbst mit "Spezial-Hochform-Pillen" in Berührung kamen. "In der Bundesliga hat Doping seit langem Tradition", schrieb Schumacher 1987. Seine Posten beim 1. FC Köln und in der Nationalmannschaft war er danach los. Verein und DFB warfen ihm Effekthascherei und Verleumdung vor.
Dopingforschung von staatlicher Seite gefördert
Der Abschlussbericht der Studie wurde am Montag veröffentlicht. Zu lesen ist der Bericht auf der Homepage des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp), das die Studie in Auftrag gegeben hatte.
Demnach ist Dopingforschung in Westdeutschland ähnlich wie in der DDR zum Zwecke der Leistungssteigerung von staatlichen Stellen geduldet und gefördert worden, Staat und Sport-Verbänden seien bis zur Wendezeit schwere Versäumnisse anzulasten. Die Nationale Anti Doping Agentur (NADA) habe die Studie zudem nicht angemessen unterstützt.
Die Autoren des 117-seitigen Abschlussberichts der Studie der Humboldt-Universität Berlin kommen zu dem Schluss, anwendungsorientierte Dopingforschung an der Universität Freiburg unter Leitung des Sportmediziners und früheren Olympia-Arztes Joseph Keul sei 'von allen entscheidenden Instanzen entweder toleriert oder sogar befeuert' worden. 'Kurzum' habe Keul 'aufgrund der Zustimmung (...) von allen maßgeblichen Organisationen und staatlichen Stellen' davon ausgehen müssen, 'dass seine anwendungsorientierte Dopingforschung sportpolitisch gewollt war'. Der ehemalige NOK-Präsident Willi Daume wird der Mitwisserschaft bezichtigt.
Anabolika-Einsatz intensiv erforscht
Keul war ab 1980 Chefarzt der deutschen Olympia-Mannschaften und zuvor seit 1960 schon betreuender Olympia-Arzt. Er starb im Jahr 2000. Sein Institut, heißt es in der Studie, sei als 'Zentrum der westdeutschen Dopingforschung' anzusehen gewesen.
In der Ausarbeitung der HU Berlin heißt es, insbesondere BISp-geförderte Studien über Anabolika und Testosteron seien von den beauftragten Wissenschaftlern auch zum Zwecke der Leistungssteigerung bei deutschen Athleten durchgeführt worden. Ergebnisse, die gesundheitliche Gefahren von Doping nachwiesen, seien nicht veröffentlicht worden.
Darüber hinaus seien vom BISp Maßnahmen gefördert worden, 'die den Anabolikagebrauch im Sport flankierten: so z. B. mit einer Studie zur Festigkeitserhöhung von Sehnengewebe. Der Bedarf danach erklärte sich aus der Anabolika-Anwendung im Sport, die bei vielen Leistungssportlern zu Sehnenverletzungen geführt hatte.' Der Einsatz von Anabolika im Leistungssport sei 'bis weit in die 1970er Jahre hinein mit einer intensiven sportmedizinischen Forschung' einhergegangen.
Ab 1983 auch Untersuchungen zu Blutdoping
Generell seien dem Staat und Sport-Verbänden Versäumnisse vorzuwerfen. Beispielsweise habe der frühere Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), August Kirsch, gleichzeitig auch BISp-Direktor, 'maßgeblich zur Verschleppung der vereinbarten Dopingkontrollen' beigetragen. Auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) habe lange zu wenig getan.
Es habe im deutschen Sport auch Blutdopingforschungen gegeben. Das BISp habe das erste Projekt zum Mittel Actovegin 1981 vergeben, zwei weitere 1983 und 1984: 'Laut handschriftlicher Notizen testeten die Kölner Sportmediziner dieses Medikament an Radsportlern und Spielern der Hockey-Nationalmannschaft.' Konkreter beschrieben werden Zweck und Rahmen der Versuche nicht.
Die Autoren kommen zur Schlussfolgerung, dass die westdeutsche Doping-Geschichte entgegen bisheriger Annahmen so alt ist wie die Bundesrepublik. 'Die vielfach formulierte These, das Dopingproblem sei in der Bundesrepublik erst mit dem Konsum von Anabolika in den 1960er Jahren offen zutage getreten, lässt sich jedenfalls eindrucksvoll widerlegen. Die Geschichte des Dopings in der Bundesrepublik beginnt demnach nicht erst 1970, als das erste formelle Dopingverbot vom Deutschen Sportbund (DSB) beschlossen wurde. Sie beginnt bereits 1949.'
Amphetamine im Fußball offenbar Normalität
Amphetamine seien bis 1960 im deutschen Sport 'teils systematisch' zum Einsatz gekommen. Dabei erhärte eine erstmals ausgewertete Dissertation des Göttinger Mediziners (und Oberliga-Fußballers) Heinz-Adolf Heper aus dem Jahr 1949 'die These, dass der Missbrauch von Substanzen aus der Amphetamin-Gruppe bereits gegen Ende der 1940er Jahre im deutschen Leistungsfußball zur Normalität gehörte' - womöglich noch ohne Unrechtsbewusstsein. Valide Zahlen zum Amphetamin-Problem im deutschen Fußball existierten allerdings nach bisheriger Kenntnis nicht.
Die Berliner Forschergruppe verbreitete im Rahmen der Studie nur Ergebnisse für die Zeit von 1950 bis 1990. Vor der Untersuchung der Nachwendezeit war das Team um Giselher Spitzer aus dem Projekt im März 2012 ausgestiegen, auch, weil die historische Arbeit erschwert worden sei. Viele Verantwortliche in den Verbänden hätten als Gesprächspartner nicht mehr zur Verfügung gestanden, weil sie sich sonst anscheinend selbst belastet hätten.
Kritik übten die Forscher auch an der NADA, die dem Beirat des Forschungsprojektes angehört. 'Es musste festgestellt werden, dass die historische Aufarbeitung seitens des Projektes bei einigen Sportverbänden und Institutionen nicht auf die gewünschte Unterstützung stieß', hieß es. Dies betreffe nicht den DOSB oder das BISp, sondern vielmehr die NADA. Diese habe 'für die einschlägigen Archivalien aus der Zeit nach 1990 nur Einsicht gewährt, aber keine Kopie zur Verfügung gestellt'.
DLV-Präsident Clemens Prokop forderte angesichts der Studie ein Anti-Doping-Gesetz. 'Es ist erschreckend, was da bekannt geworden ist', sagte Prokop in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Ohne ein entsprechendes Gesetz sei die wirksame Doping-Bekämpfung nicht zu bewerkstelligen. (mit sid)