Essen. 1967 durften erstmals verletzte Spieler ersetzt werden. Nun sind fünf Wechsel erlaubt. Das ist umstritten und könnte den Fußball revolutionieren.

Bert Trautmann durfte kein einziges Mal für Deutschland spielen. Sepp Herberger, der legendäre Weltmeister-Trainer, traute sich in den Fünfzigern noch nicht, einen sogenannten Legionär zu berufen, Nationalspieler hatten bei deutschen Vereinen beschäftigt zu sein. Trautmann spielte in England, aus einem angefeindeten Kriegsgefangenen war der umjubelte Torhüter von Manchester City geworden, und aus dem umjubelten Torhüter von Manchester City wurde 1956 ein Held.

Ab 1967 durfte ein verletzter Spieler ersetzt werden

Englisches Cupfinale gegen Birmingham: Trautmann, Typ furchtloser Draufgänger, stürzte sich kopfüber einem Angreifer entgegen – und verletzte sich dabei schwer. Wie schwer, wusste noch niemand. Der Bremer spielte weiter, hielt irgendwie durch, Manchester City siegte 3:1. Nach dem Abpfiff dann der Schock: Die Selbstaufopferung war ein Spiel mit dem Tod, der Torhüter hatte sich das Genick gebrochen. Mehr Glück im Unglück ging nicht.

Älteren Fußballfreunden ist auch noch der Kölner Wolfgang Weber in Erinnerung, ein unerschütterlicher Verteidiger, der sich 1965 im Viertelfinale des Europapokals der Landesmeister gegen den FC Liverpool nur noch humpelnd über den Rasen bewegte, um Gegenspielern im Weg zu stehen. Laufen war nicht mehr möglich – wie auch mit einem gebrochenen Wadenbein?

Die Unvernunft, auch ihn nicht sofort vom Feld getragen und ins Krankenhaus gebracht zu haben, hatte einen regeltechnischen Hintergrund: Damals durfte noch nicht ausgewechselt werden, man hoffte immer, dass es doch noch gehen würde. Erst ab 1967 durfte ein Spieler ersetzt werden, und das auch nur, wenn er verletzt war – anfangs tatsächlich auch nur einer. Ab 1968 wurden zwei Wechsel erlaubt, erst ab 1994 drei – das galt schon als historische Marke.

Zwei Einwechselspieler bescherten Deutschland 2014 den WM-Titel

Wechsel spielen heute längst eine zentrale Rolle im Fußball. Sie sorgen für mehr Dramatik, machen Spiele interessanter, weniger berechenbar. Einwechselspieler sind im Idealfall Joker. Frische Kräfte, die Spielverläufe auf den Kopf stellen können oder das eine, das entscheidende Tor besorgen: Wie André Schürrle und Mario Götze, deren Co-Produktion in der Verlängerung des WM-Finales von Brasilien gegen Argentinien der deutschen Nationalmannschaft 2014 den Weltmeistertitel bescherte.

Mit drei Wechseln konnten Trainer bisher gut leben, sie gaben ihnen taktischen Spielraum. Was aber gerade passiert, coronabedingt, könnte den Fußball tatsächlich revolutionieren.

Baumgart wechselte am häufigsten, Flick am wenigsten

Nach dem Wiederbeginn der Bundesliga nutzte Steffen Baumgart, der Trainer des Absteigers SC Paderborn, am häufigsten die Möglichkeit, mehr Wechsel als zuvor vornehmen zu können. Er kam auf durchschnittlich 4,89 Wechsel pro Spiel.

Am wenigsten machte der Trainer des Deutschen Meisters FC Bayern von der neuen Gelegenheit Gebrauch: Hansi Flick wechselte im Schnitt lediglich 3,67-mal. Genau viermal im Schnitt wechselte Schalkes Trainer David Wagner – Liga-Mittelfeld.

Pro Spieltag wechselten immer mindestens 13 der 18 Trainer vier- oder fünfmal aus. Einmal – am 29. Spieltag – sogar alle.

Mit Blick auf den vollgepackten Terminkalender und die damit verbundene höhere Belastung der Spieler wurde schon im März für den Wiederbeginn nach der Corona-Pause die Aufstockung des Wechselkontingentes auf fünf beschlossen, um einem erhöhten Verletzungsrisiko vorzubeugen. Eine Maßnahme, die von einem Großteil der Bundesligisten befürwortet wurde.

Nun haben die Regelhüter des International Football Association Boards (Ifab) entschieden, dass auch in der kommenden Spielzeit fünfmal gewechselt werden darf – außerhalb der Halbzeit bei maximal drei Spielunterbrechungen pro Team. Die Deutsche Fußball-Liga wird bei einer Mitgliederkonferenz vor Saisonbeginn entscheiden, ob die Regel auch hierzulande weiterhin angewandt wird. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass die fünf Wechsel auch über die Zeit der Corona-Krise hinaus von einer Zwischen- zur Dauerlösung werden könnten. Eine wesentliche, spielverändernde und deshalb nicht unumstrittene Veränderung.

Gladbach-Manager Eberl: "Ich begrüße diese Entscheidung"

Waren sich die Verantwortlichen der Bundesligisten aufgrund der Ausnahmesituation in den vergangenen Monaten noch einig darüber, dass fünf Wechsel sinnvoll seien, gehen die Meinungen darüber mit Blick auf die Zukunft, auch schon auf die nähere, auseinander. „Ich begrüße diese Entscheidung“, sagt Max Eberl, der Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach, und begründet seine Haltung mit dem „sehr engen Spielplan“, der den Bundesligisten in Folge der Corona-Krise auch in der kommenden Saison zu schaffen machen werde. „Es verbessert definitiv die Chancen, Überbelastungen entgegenzuwirken.“

Die neuen Möglichkeiten: Im Bremer Regen wechselt Trainer Florian Kohfeldt (Mitte) dreimal gleichzeitig aus.
Die neuen Möglichkeiten: Im Bremer Regen wechselt Trainer Florian Kohfeldt (Mitte) dreimal gleichzeitig aus. © firo

Aber es gibt auch Gegenstimmen. Werder Bremens Trainer Florian Kohfeldt etwa sagte schon während der vergangenen Spielzeit, er sei „kein Freund “ der Regelanpassung. Als Grund nennt er die größeren Einflussmöglichkeiten von außen: „Ich finde den Eingriff ins Spiel zu gravierend, wenn man fast die halbe Mannschaft austauschen kann.“ Dem schließt sich auch RB Leipzigs Sportdirektor Markus Krösche an, der befürchtet, die Struktur des Spiels gehe „kaputt, weil man 50 Prozent der Feldspieler austauschen kann“, wie er dem Kicker sagte.

Ein Kritikpunkt ist auch, dass die großen Klubs, die sich wegen ihrer Mehrfachbelastungen durch internationale Auftritte ohnehin breitere Aufgebote zugelegt haben, von einer dauerhaften Regelanpassung möglicherweise bevorteilt werden könnten. „Es ergibt keinen Sinn, die stärkeren Vereine noch mal zu stärken, indem sie fünf bessere Spieler reinbringen können als die anderen“, sagte Oliver Ruhnert, der Geschäftsführer von Union Berlin, dem Kicker. Deshalb fordert er: „Man sollte dringend zu drei Auswechslungen zurückkehren.“

Schalke-Trainer Wagner: "Man kann die Belastung besser verteilen"

David Wagner erkennt durchaus den Vorteil der erhöhten Wechselkapazitäten. „Ich glaube, dass man die Belastung so besser verteilen kann“, sagt der Trainer des FC Schalke 04 gegenüber dieser Redaktion. Grundsätzlich aber äußert er sich eher verhalten: „Ich wehre mich nicht dagegen, halte das aber nicht für zwangsläufig notwendig.“

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Max Eberl betont noch, die Möglichkeit, fünfmal statt dreimal zu wechseln, gebe „den Trainern etwas mehr Handlungsspielraum“. Damit bestätigt er allerdings ausgerechnet Florian Kohfeldt, der genau darin eine Gefahr sieht.

Zweifellos könnten häufige Mehrfachwechsel ganze Spiele krass verändern. Es käme ja auch auf die Positionen an: Bis zu fünf neue Angreifer, um einen Rückstand aufzuholen, darunter schnelle Außenbahnspieler – das ist künftig genauso möglich wie die Einwechslung von bis zu fünf Defensivspezialisten, um das eigene Tor nach einer Führung zu verriegeln. Durch mehr frische Kräfte könnten auch gegen Ende des Spiels viele intensive Läufe absolviert werden, ein kräftezehrendes Pressing könnte bis in die Schlussphase aufrechterhalten werden. Auch komplette Systemwechsel sind bei fünf erlaubten Auswechslungen deutlich leichter durchzuziehen.

1956, Cupfinale in England: Manchester Citys deutscher Torwart Bert Trautmann stürzt sich Birminghams Murphy entgegen - und bricht sich in dieser Szene das Genick. Dennoch spielt er weiter.
1956, Cupfinale in England: Manchester Citys deutscher Torwart Bert Trautmann stürzt sich Birminghams Murphy entgegen - und bricht sich in dieser Szene das Genick. Dennoch spielt er weiter. © Getty

Nach bisher nur neun Spieltagen, an denen die fünf Wechsel in der Bundesliga erlaubt waren, lassen sich solche Veränderungen des Spiels statistisch noch nicht ablesen. Was auch daran liegen mag, dass noch nicht alle Trainer die Facetten der neuen Wechselmöglichkeiten komplett genutzt und hinreichend analysiert haben. Es scheint jedoch nicht unwahrscheinlich, dass sich das zur Spielzeit 2020/21 ändern wird – sofern die Liga die Regel des Ifab übernimmt, könnten die Wechselspiele beginnen.